Bildersprache

„SCHRIFTVERSTÄNDNIS“: Das Bilderbuch Gottes

Zahlreiche Beispiele außerbiblischer Texte aus der Zeit Jesu belegen die große Bedeutung, die Bilder und Allegorien damals hatten (Philo von Alexandrien, „Die Schatzhöhle“ und viele andere). Unsere Herangehensweise, nämlich biblische Texte solange “wörtlich“ zu nehmen, bis es gar nicht mehr anders geht, ist vielen Texten unangemessen und nimmt die Autoren in ihren ursprünglichen Absichten nicht ernst.

Ich möchte das Gesagte an einem einfachen, unverfänglichen Beispiel demonstrieren, das nicht in der Bibel steht. Es ist eine “Geburtstagsrede”:

Verehrte Gäste!

Herzlich begrüße ich Sie zu dieser ganz besonderen Geburtstagsfeier. Wie Sie wissen, hat unser Jubilar eine Besonderheit aufzuweisen, nämlich zwei Väter – und wenn ich witzig sein wollte, könnte ich hinzufügen: keine Mutter! Nachdem meine Vaterrechte um einige Sekunden älter sind als die von Manfred (jedenfalls habe ich als erster die Geburtsurkunde unterschrieben), habe ich zuerst das Wort ergriffen – er wird sich aber gleich anschließen und den Werdegang unseres gemeinsames Kindes aus seiner Sicht schildern. Ich kann für mich nur sagen, dass der Racker trotz seines zarten Alters von jetzt genau 10 Jahren sehr erwachsen und reif geworden ist. Immerhin hat ihm die Stadt Frankfurt, wie Sie wissen, erst kürzlich den Großen Innovationspreis für sein bahnbrechendes Biodispersionsverfahren verliehen! Aber auch international hat seine – und unsere gemeinsame – Entwicklung bereits große Beachtung gefunden. Viele von Ihnen haben unseren Jubilar von Geburt an begleitet und auf ganz unterschiedliche Weise gefördert und voran gebracht. Dazu nachher noch mehr. Jetzt aber hebe ich mein Glas auf das Wohl unseres Newcomers in der Welt des Bio-HighTech – möge er seine Väter um Generationen überleben!

Wenn wir versuchen, diesen Text „wörtlich“ zu nehmen, stoßen wir auf ein paar sehr merkwürdige Umstände. Da ist ein Kind, dessen 10. Geburtstag gefeiert wird. Das Kind muss ein Wunderkind sein, denn es hat bereits einen Innovationspreis für ein bahnbrechendes Biodispersionsverfahren gewonnen. Das Kind hat zwei Väter, aber keine Mutter. Und wie sollte es seine Väter um Generationen überleben können? Wenn dieser Text in der Bibel stünde, würden wir vielleicht an diesen sonderbaren Aussagen nicht zweifeln. Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Warum sollte ein von ihm begnadetes Kind nicht zwei Väter und keine Mutter haben?

Jetzt kommt unser Vorwissen ins Spiel. Wir sind eingeladen zum 10jährigen Jubiläum einer Firma, die sich mit einem Biodispersionsverfahren einen Namen gemacht hat. Die Firma gehört zwei Brüdern. Vom ersten stammt die „Geburtstagsrede“. – Wenn wir jetzt den Text mit diesem Vorwissen noch einmal lesen, werden wir ihn mit anderen Augen sehen. Plötzlich verstehen wir ihn ganz anders. Zwei Firmenchefs und ihr „Baby“, die Firma, die gerade ihr 10jähriges Jubiläum feiert. Jetzt ergibt alles einen Sinn – sogar die zwei Väter und die fehlende Mutter. Ohne unser Vorwissen und beim Versuch, die Rede „wörtlich“ zu nehmen, gehen wir in die Irre. Der Firmenchef, der sie hält, setzt das Vorwissen seiner Zuhörer voraus und kann so „im Bild“ sprechen. Es ist, im sprachwissenschaftlichen Fachjargon gesprochen, eine Allegorie. Verschiedene Teile der Allegorie entsprechen Aspekten aus dem wirklichen Leben:

das Kind – die Firma
10. Geburtstag – 10jähriges Jubiläum
zwei Väter – zwei Brüder als Firmenchefs
Geburtsurkunde – Firmengründung

Das besondere dieser Rede: Sie ist von vorneherein gar nicht wörtlich gemeint. Wer sie wörtlich nähme, würde nicht nur den Text missverstehen, sondern auch die eigentliche Intention des Verfassers. Das GESAGTE ist nicht das GEMEINTE. Vielmehr soll das Gesagte zeichenhaft auf das Gemeinte hinweisen.

Meine These: Viele Texte der Bibel sind so „gestrickt“ wie die Geburtstagsrede. Sie sind von ihren Verfassern nicht wörtlich gemeint. Sie setzen ein Vorwissen voraus, damit man sie verstehen kann.

Dazu nun ein Beispiel aus der Bibel: Die Magier aus dem Morgenland (Luther übersetzt das griechische Wort „magoi“ mit „die Weisen“. Es sind aber, wie wir sehen werden, durchaus Magier, zoroastrische Zauberer – und noch dazu tatsächlich Könige, obwohl dieser Begriff für sie in der Bibel gar nicht vorkommt.)

Matthäus 2,1-12
(1) Als Jesus geboren war in Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen:
(2) Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten.
(3) Als das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem,
(4) und er ließ zusammenkommen alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und erforschte von ihnen, wo der Christus geboren werden sollte.
(5) Und sie sagten ihm: In Bethlehem in Judäa; denn so steht geschrieben durch den Propheten (Micha 5,1):
(6) »Und du, Bethlehem im jüdischen Lande, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.«
(7) Da rief Herodes die Weisen heimlich zu sich und erkundete genau von ihnen, wann der Stern erschienen wäre,
(8) und schickte sie nach Bethlehem und sprach: Zieht hin und forscht fleißig nach dem Kindlein; und wenn ihr's findet, so sagt mir's wieder, dass auch ich komme und es anbete.
(9) Als sie nun den König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war.
(10) Als sie den Stern sahen, wurden sie hoch erfreut
(11) und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe.
(12) Und Gott befahl ihnen im Traum, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren; und sie zogen auf einem andern Weg wieder in ihr Land.


Auch diese Geschichte berichtet Merkwürdiges: Magiern aus dem Osten erscheint ein Stern. Der Stern sagt ihnen (wie tut er das?), dass die Juden einen neugeborenen König haben (warum sollte es die Weisen interessieren? Warum sollten sie kommen und ihn anbeten?). Herodes weiß gleichzeitig, dass die Magier den erhofften Messias/Christus suchen (woher?). Die Schriftgelehrten erforschen die Schriften und finden heraus, dass der Messias aus Bethlehem stammen müsse. Herodes schickt die Magier nach Bethlehem (warum?). Auf dem Weg taucht der Stern wieder auf und führt die Magier nach Bethlehem (wie tut er das?) bzw. genau zu dem Haus, in dem Jesus war (ist das vorstellbar?). Sie beten das Kind an und schenken ihm Gold (das ist vorstellbar), Weihrauch (wozu?) und Myrrhe (wozu?). Nun bekommen sie im Traum Anweisungen (was sie nicht weiter verwundert). Sie kehren nicht zu Herodes zurück (wissen sie warum?) und „zogen auf einem anderen Weg wieder in ihr Land“. Wäre uns diese Geschichte nicht so vertraut, sie würde mehr Fragen aufwerfen als beantworten.

Nun kommt wieder das Vorwissen ins Spiel. Im Jahr 66 n. Chr. (also ca. zu der Zeit, in der dieser Text entstand), machte ein großes Ereignis von sich reden. Römische Historiker (Plinius d. Ä, Sueton) berichten, dass der armenische König Tiridates (armenisch Trdat), mit einer großen Gesandtschaft nach Rom gezogen war, um sich Kaiser Nero zu unterwerfen. Er fiel Nero zu Füßen, um ihn als Gott anzubeten. Ferner wird ausdrücklich berichtet, dass die Gesandtschaft einen anderen Weg nach Hause nahm. Und dass Tiridates nicht nur König, sondern „Magier“ war – damals noch ein Begriff, der einen zoroastrischen Priester bezeichnete. (Unter anderem begleiteten ihn weitere „Magier“.) Zur Reisegesellschaft gehörten auch 1000 parthische Reiter seines Bruders Vologaeses, König der Parther – ein wirkliches Großereignis also. Es war von Nero aufwändig inszeniert worden und nicht zuletzt deshalb Gesprächsstoff im ganzen römischen Reich.

Was nun, wenn Matthäus seine Geschichte unter dem Eindruck dieser Begebenheit schrieb – und in dem Wissen, dass diese Begebenheit unter seinen Zeitgenossen wohl bekannt war? Dann hätte jeder verstanden: Nicht der Christenverfolger Nero ist anzubeten, sondern Christus. Nicht Nero, sondern Christus ist der wahre Herr der Welt. Nicht aus Jerusalem/Rom kommt der Messias, sondern aus Bethlehem.

Kunstvoll hätte Matthäus noch weitere Hinweise eingebaut, die seine Mitchristen gut verstanden. Auch hier können wir – wie in der „Geburtstagsrede“, (s. o.) tabellarisch Entsprechungen gegenüberstellen:

Herodes – Nero (Herodes war von den Römern 47 v. Chr. in Jerusalem als König eingesetzt worden – also wesentlich früher als Nero. In der nachfolgenden Geschichte – Kindermord – „mutiert“ er zum Pharao, der die Erstgeborenen der Israeliten töten ließ. Das passt in seiner Grausamkeit allerdings auch zu Nero, der Christen den Löwen zum Fraß vorwerfen ließ. Auch Herodes selber war als sehr grausam bekannt.)
Jerusalem – Rom
Magier aus dem Morgenland – Tiridates (König und Magier und sein Gefolge sowie ein weiterer mitreisender Magier)
das Christuskind/der neugeborene König der Juden – das noch junge, gerade erst „geborene“ Christentum
der Stern – vgl. 4. Mo. 24,17: „Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen.“ (wurde auf dem kommenden Messias gedeutet)
Gold – Symbol der Königswürde
Weihrauch – Symbol der Priesterwürde
Myrrhe – Symbol der Prophetenwürde (= Christus als König, Priester und Prophet)
Tiridates betet Nero an – die Magier beten Jesus an

Wenn das alles so wäre, dann könnte diese Geschichte für die verfolgte Gemeinde in Rom und im ganzen Römischen Reich geschrieben worden sein. Ihre tröstende und mutmachende Botschaft: Nero, der euch verfolgt, der euch und eure Kinder tötet, ist kein Gott. Seine Macht als Kaiser ist bereits überschattet vom Kommen des Christus („Der König Herodes erschrak und mit ihm ganz Jerusalem“, v. 3; vgl. dazu: „Herodes ging im Jahr 6 v. Chr. mit Härte gegen Pharisäer vor, die verkündet hatten, dass mit der Geburt des Messias das Ende seiner Herrschaft bevorstünde.”
> Wikipedia). Feige und heuchlerisch schickt er andere vor („… forscht fleißig nach dem Kinde …, dass auch ich komme und es anbete“, V. 8). Noch hat er wie einst Pharao die Macht zu töten. Aber für die Christusnachfolger wird ein zweiter Auszug aus Ägypten in Aussicht gestellt („Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“, V. 15; mit Sohn war ursprünglich das Volk Israel gemeint, hier bezieht es sich auf Jesus als dem “wahren” Israel). Ihr Gott wird sich stärker erweisen als Nero. Einerseits ist es unverfänglich, eine Geschichte über Magier zu erzählen, die im fernen Jerusalem spielt. Für den „Wissenden“ wird hier der mächtigste Mensch im Römischen Reich in seine Schranken verwiesen.

Wörtlich genommen, wirft die Geschichte von den Magiern aus dem Morgenland mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Als verschlüsselte Botschaft an die verfolgten Christen bekommt alles seinen Platz. „Verschlüsselt“ heißt: Wir benötigen Vorwissen, Zusatzinformation, damit wir die Bildgeschichten nicht missverstehen. Viele biblische Texte würden durch ein naives, „wörtliches“ Verständnis ihre ursprüngliche, von ihren Autoren intendierte Bedeutung verlieren. „Impulse für Christen“ möchte solchen Texten zu einem angemesseneren, tieferen Verständnis verhelfen.