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Der historische Jesus

Meine jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Neuen Testament hat mich zu dem Schluss geführt (und damit bin ich natürlich weder der Erste noch der Einzige), dass ein großer Teil dieser Texte nicht wörtlich gemeint war, sondern bildhaft, allegorisch. Es ist vor allem der Versuch, Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi im Licht und mit Hilfe des Alten Testaments zu sehen und zu verstehen. Das Neue Testament „kommentiert“ Jesu Wirken und Sein, es enthält keine Biographie, es ist mit konkreten Angaben zu Jesu Leben auffallend zurückhaltend.

Was können wir dann überhaupt über den historischen Jesus wissen? Die Textkritik hat unter anderem ein sehr einleuchtendes Merkmal zur Beurteilung dieser Frage vorgeschlagen: Unangenehme Dinge, die man lieber verschwiegen hätte, (die aber zu bekannt waren, um sie zu verschweigen) sind mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit historisch. Ähnliches gilt für Dinge, für die es keinen einsehbaren Grund gab, sie zu erfinden. Dazu kommen überlieferte Worte und Gleichnisse, also Jesu Lehrtätigkeit, sowie seine Zuwendung zu den Randgruppen seiner Gesellschaft. In Stichworten zusammengefasst:

 - Herkunft aus Nazareth
- Taufe durch Johannes
- Konflikt mit seiner Familie
- Lehrtätigkeit/Jünger
- Zuwendung zu den Randgruppen
- Konflikt mit dem römischen und jüdischen Establishment / Kreuzigung

 (1)  Herkunft aus Nazareth

Nazareth als Heimatort Jesu lässt sich nicht erfinden. Der Ort hat bis zur Geburt Jesu keinerlei biblische Bedeutung. Er liegt im halb heidnischen Galiläa. Schon Nathanael, einer der ersten Jünger Jesu, fragt: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ (Jh. 1,46) Während des öffentlichen Wirkens  Jesu tritt Nazareth nur noch einmal in Erscheinung: als die Stadt, die Jesus davonjagte
(Lk. 4,16-30). Auch das lässt sich kaum erfinden. Nazareth ist untrennbar mit dem historischen Jesus verbunden („und er kam in seine Vaterstadt…“ Mk. 6,1).

Dass man Jesus mit Bethlehem in Verbindung gebracht hat, ist von der Verkündigung motiviert und nicht von der Geschichte und zwar aus folgenden Gründen:

- Bethlehem wird ausschließlich in den Prologen des Matthäus und des Lukas als Vaterstadt Jesu (als sein Geburtsort) genannt. Diese Prologe sind, wie wir gesehen haben (vgl. die Ausführungen zu Mt. 1-2 und Lk. 2), literarische Texte, die bildhaft und auf den Punkt gebracht ausdrücken wollen: Nazareth mag der reale Geburtsort Jesu sein, seines Wesens nach stammt er aus “Bethlehem”. Bethlehem steht für Davidsherrschaft und Ankunft des “endgültigen”, weil messianischem Königs. Jesus stammt aus “Bethlehem” heißt deshalb: mit Jesus ist dieser “König aller Königreich” gekommen.
Außerhalb dieser zwei Textstellen wird Bethlehem (im Gegensatz zu Nazareth) nie wieder mit Jesus in Verbindung gebracht. Selbst in den Evangelien von Matthäus und Lukas nicht. (Vgl. dazu auch Jh. 7,41 ff. – hier kamen Jesu Anhänger sogar in Beweisnot, weil Jesus gerade nicht aus Bethlehem stammt.)

 - Matthäus und Lukas begründen die Geburt Jesu in Bethlehem in ihren Prologen unterschiedlich, abhängig von ihrer literarischen Intention. Matthäus beschreibt Bethlehem als ursprünglichen Wohnort der Heiligen Familie. Sie wohnt hier bis zur Flucht nach Ägypten. Anschließend trauen sie sich aus Angst vor Verfolgung nicht mehr ins jüdische Land zurück, sondern weichen nach Galiläa aus und nehmen in Nazareth Wohnung (Mt. 2,9-23).
Lukas dagegen beschreibt Nazareth als ursprünglichen Wohnort. Durch die von Rom angeordnete Volkszählung erscheinen Maria und Josef in Bethlehem, weil jeder sich in seiner Vaterstadt registrieren lassen muss und Josef aus Bethlehem stammt. Ohne dass es explizit erwähnt wird, kehren Josef und Maria mit dem neugeborenen Kind Jesus nach Nazareth zurück. Aber:
- Zur Zeit der Geburt Jesu hat es in Galiläa keine Volkszählung gegeben.
- In den römischen Volkszählungen war es zu keiner Zeit üblich und notwendig, sich in der Geburtsstadt des Familienoberhaupts registrieren zu lassen.

So wird man mit großer Sicherheit sagen können: Jesus wurde in Nazareth geboren und hier verbrachte er seine Kindheit.

Sein Vater Josef war Baumeister (bessere Übersetzung als Zimmermann). Dass Jesus dieses Handwerk von seinem Vater erlernt hat, wird in Mk. 6,3 überliefert. Für diesen Vers gibt es zwei Lesarten: “Baumeister” oder “Sohn des Baumeisters”. In jedem Fall war er mit dem Bauhandwerk in Berührung gekommen. Ob er es ausgeübt hat, wissen wir nicht. Denn nun taucht er in einem gänzlich anderen Zusammenhang auf: als Täufling (und Jünger?) bei Johannes dem Täufer am Jordan.

(2)  Taufe durch Johannes

Das zweite historisch fest verankerte Ereignis, das über Jesus berichtet wird, ist seine Taufe durch Johannes. Dieses Ereignis hat den frühen Christen großes Kopfzerbrechen bereitet. Und zwar aus mehreren Gründen.

Johannes predigte eine Taufe zur Buße (Umkehr) und Vergebung der Sünden. Der Täufling zeigte seine Reue, die der Buße zwangsläufig vorausgehen musste. Buße war ja nur sinnvoll, wenn man einen Grund hatte umzukehren. Der Täufling bekannte ferner seine Sündhaftigkeit, ohne die eine Taufe zur Vergebung der Sünden ebenfalls nicht sinnvoll wäre. Johannes tauchte die Täuflinge im Jordan unter (symbolische Reinwaschung) und sprach ihnen Sündenvergebung zu.

    Anmerkung: Genau diesen Anspruch der Sündenvergebung machte man später Jesus zum Vorwurf („Deine Sünden sind dir vergeben…“ Mt. 9,2). Es war aber nicht nur Johannes und Jesus, die Sündenvergebung praktizierten, sondern vor allem natürlich auch die Priester im Tempel. Darauf basiert ja der Opferkult oder auch der Versöhnungstag – vgl. 2. Mo. 16). Der Vorwurf bezog sich deshalb vermutlich darauf, am Tempelkult vorbei (= ohne „amtliche“ Vollmacht) Sündenvergebung praktiziert zu haben.

Mit der Taufe Jesu beginnt das öffentliche Wirken Jesu. Damit wird ausgedrückt: Jesus bekehrt sich bei Johannes. Er bekennt seine Sünden und empfängt durch Johannes die Sündenvergebung. Als „Wiedergeborener“ wird er von Gott berufen. Auch hier beschreibt die Bibel bildhaft: Der Himmel öffnet sich und Jesus empfängt den Heiligen Geist, der sich „wie eine Taube“ auf Jesus niederlässt. Eine himmlische Stimme proklamiert: „Dies ist mein lieber Sohn, den ich heute gezeugt habe.“ (Mk. 1,11; zur Veränderung des Zitats s.u.) Jesu neu gewonnene Vollmacht bringt große Versuchungen mit sich, denen er unter Berufung auf die Schrift widerstehen kann.

Erste Problematik für die ersten Christen (die an Jesus als den Messias glaubten): Warum musste der Messias eine „Taufe zur Vergebung der Sünden“ durchlaufen? Hätte er nicht schon sündlos zur Welt kommen müssen?

Zweite Problematik: Warum musste der Messias überhaupt getauft werden? Es sollte doch direkt vom Himmel gesandt werden?

Dritte Problematik: Wenn Jesus der Messias war – warum ist ihm Johannes nicht sofort nach seinem Auftreten nachgefolgt? (Nach Mt. 11,2 schickt er sogar einige seiner Jünger zu Jesus, um ihn zu fragen, ob er wirklich der Messias sei. Nach Mt. 9,14 ff. diskutieren Jünger des Johannes mit Jesus. Die Bewegung bestand also über die Enthauptung des Johannes hinaus.)

Vierte Problematik: Johannes wurde von einigen seiner eigenen Jünger als Messias gesehen. Es gibt eine „Kindheitsgeschichte“ des Johannes, die kunstvoll in das Lukasevangelium eingewoben worden ist. Danach hat Johannes den Heiligen Geist bereits im Mutterleib und nicht erst bei einem Bekehrungserlebnis erhalten (Lk. 1,15). Macht ihn das nicht Jesus überlegen?

Jesu Taufe war also für die ersten Christen ein „Ärgernis“, mit dem sie sich auseinandersetzen mussten. Ihre Antwort war eine zweifache:

(a)   Jesus war nicht erst seit seiner Taufe von Gott berufen. Gott hatte ihn nicht erst bei der Taufe „gezeugt“, sondern schon bei seiner Geburt (Lk. 1,35).

     Anmerkung: Darum änderte man konsequenterweise das Bibelwort „Du bist mein lieber Sohn, heute habe ich dich gezeugt“ zu „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe.“ (Lk. 3,22) – Später, unter griechischem Einfluss, als man unter „Sohn“ nicht mehr „Israel“ verstand, sondern einen Gottessohn nach dem Vorbild griechischer Mythologie, wurde die Frage nach dem Zeitpunkt der „Geisteinwohnung“ („in ihm wohnte Gottes Fülle leibhaftig“) (Kol. 2,9) gegenstandslos, weil er ja als ewiger Sohn Gottes schon immer und von Anfang an eins war mit dem Vater und dem Geist.

(b)  Johannes war also trotz  „Geistbegabung“ vom Mutterleib an nicht der Messias, sondern dessen Wegbereiter. Ursprünglich verstand man unter dem Wegbereiter den Messias, der Gott vorausging. Aber wenn Jesus immer schon Gott war, konnte Johannes Wegbereiter seines irdischen Auftretens sein, konnte man die zentrale alttestamentliche Bibelstelle Jes. 40,3 umdeuten und Johannes zuordnen (s.u.).

Alle vier Evangelien investieren von Anfang an viel Energie in die Frage nach dem Verhältnis zwischen Johannes und Jesus. Offensichtlich bestand an dieser Stelle noch viel Klärungs­bedarf, der seinen Widerhall sogar noch in der Apostelgeschichte findet (Ag. 1,22; 10,37-38; 18,25; 19,1 ff.) (vgl. auch Mt. 11,11-15). Jedenfalls war es so, dass die Johannes-Bewegung und die Jesus-Bewegung viele Jahre nebeneinander bestanden (vgl.dazu auch Jh. 4,1-2). Auch das konnte man nicht erfinden, weil es dem Versuch widerspricht, Johannes „nur“ zum Vorläufer Jesu zu machen. Mit der Hinrichtung des Johannes nahm sein Einfluss ab, der von Jesus, der ab dieser Zeit zu lehren begann, nahm zu. Mehrere Jünger des Johannes wechselten zu Jesus über, andere versuchten die Tradition des Johannes hochzuhalten (vgl. nochmals Ag. 19,1 ff.). Weil Jesus „aus der Schule“ des Johannes kam, von ihm getauft wurde und Jünger des Johannes zu ihm wechselten, musste das Verhältnis dieser beiden Lehrer grundsätzlich (und positiv) bedacht werden. Die Antwort der Christen: Johannes war groß, Jesus war größer. Der Taufe Jesu wurde weniger Bedeutung beigemessen (bei Mt. sagt Johannes der Täufer: „Ich bedarf dessen, dass ich von dir getauft werde, und du kommst zu mir?“ Worauf Jesus antwortet: „Lass es jetzt geschehen. Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ (Mt. 3,14-15); bei Johannes wird die Taufe Jesu bereits „verschwiegen“, sie kann aus Jh. 1,31-34 nur indirekt und in Kenntnis der synoptischen Evangelien erschlossen werden.)

    Anmerkung: Alle vier Evangelien beginnen mit dem Verhältnis zwischen Johannes dem Täufer und Jesus bzw. mit dem Verhältnis der beiden Täuferbewegungen. Alle Evangelien versuchen die Bewegungen zu harmonisieren, indem sie Johannes als Vorläufer Jesu einordnen. Sie benutzen in ihrer Argumentation vor allem Jes. 40, wo Gott dem Volk im Exil seine neuerliche Zuwendung ankündigt. „Er kommt gewaltig“ heißt es in Jes. 40,10. Seine heilsame Gegenwart wird von einer nicht näher bestimmten „Stimme“ angekündigt:

    „Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserem Gott“ (Jes. 40,3). Diese Stimme wird in den Evangelien Johannes dem Täufer zugeordnet (bei Jesaja wird man aus dem Zusammenhang eher Gottes Stimme annehmen). In Jes. 42 wird dann folgender Vers auf Jesus bezogen:

    „Siehe, das ist mein Knecht … an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen“ (Jes. 42,1). Aus dem Zusammenhang wird deutlich, dass der „Knecht“ Israel ist, das Volk, das vor Gott neue Gnade gefunden hat (vgl. Jes. 41,8-9). Der Umgang mit diesen Stellen aus Jesaja 40 ff. (ihre Gleichsetzung mit Johannes und Jesus) zeigt wieder einmal, wie wenig den Evangelisten an einer (nach unseren heutigen Maßstäben) „angemessenen“ Textinterpretation gelegen ist. Entscheidend ist wieder nicht das Gesagte, sondern das Gemeinte: Jes. 40 ff. dient zum „Schriftbeweis“ für Jesus als Messias und für Johannes als seinen Wegbereiter.

 

(3)  Konflikt mit seiner Familie

Nach Mk. 6,3 hatte Jesus vier Brüder (Jakobus, Josef, Judas und Simon) sowie mindestens zwei namentlich nicht genannte Schwestern. Weil die Jungfrauengeburt (vgl. den Artikel zum Prolog des Matthäus) eine allegorische Umschreibung des Bibelwortes Jh. 1,13 („… nicht aus den Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren“) ist, gibt es auch keinen historischen Hinweis darauf, dass Jesus der älteste der Kinder Marias war. Er könnte genauso gut der Jüngste gewesen sein. In jedem Fall hat sich seine Familie mit seiner Rolle als Nachfolger von Johannes des Täufers zunächst sehr schwer getan. Markus berichtet, dass Jesu Familie ihn zurückzuhalten versuchte, ihn gar für verrückt erklärte (Mk. 3,21). Das haben Jesu Nachfolger sicher nicht erfunden!

Ein früher Widerhall dieses gespannten Verhältnisses könnte in Lk. 2,41-50 zu finden sein. Lukas berichtet hier von einer Reise zum Passahfest nach Jerusalem, auf dessen Rückweg der zwölfjährige Jesus scheinbar verloren geht. Seine Eltern suchen ihn überall. Schließlich kehren sie nach Jerusalem zurück und finden den Knaben im Tempel. Er sitzt unter den Lehrern Israels, stellt ihnen intelligente Fragen, gibt ihnen „erwachsene“ Antworten. Die Schriftgelehrten sind ganz außer sich. „Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte“ (Lk. 2,48-50).

Es ist ein wohl häufig wiederkehrendes Phänomen, dass Menschen, die mit ihrem Glauben ganz ernst machen und Gott ganz nahe sein wollen, von ihrer Umwelt und besonders von ihren Familien zunächst mit Skepsis oder sogar Ablehnung bedacht werden. Gerade einige Verwandte und Freunde trauen ihnen die charismatischen Veränderungen nicht zu: „Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria? … Und sie ärgerten sich an ihm“ (Mt. 12,55+57).

So war auch Jesu Hinwendung zu seinem himmlischen Vater mit Widerständen aus der Familie verbunden, die er überwinden musste. Markus berichtet davon:

31 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.
32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.
33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder?
34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!
35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
Mk. 3,31-35

In dieselbe Richtung weist ein Wort, das Lukas überliefert:

26 Wenn jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein.
(Lk. 14,26-27; vgl. auch Lk. 12,51-53)

Allerdings hat das Wort, das Luther mit „hassen“ übersetzt, im Aramäischen nicht den hohen emotionalen Anteil, durch den es für uns so anstößig wird. Gemeint ist vielmehr „sich abwenden von“, „sich dagegen entscheiden“. Es geht also nicht darum, die Familie zu hassen, sondern sich von ihr nicht aufhalten zu lassen, sich im Zweifelsfall auch gegen sie zu entscheiden, wenn es um die Umsetzung radikaler Nachfolge geht (vgl. dazu den Beitrag „hassen“ unter „Biblische Begriffe“; vgl. auch Mt. 10,37, Mt. 17,23 und Mt. 19,29).

So sehr Jesu Ablehnung durch seine Familie am Anfang seines Wirkens als historisch einzustufen ist, so sehr gilt auch das Gegenteil am Ende seines Lebens. Zwar heißt es in Jh. 7,5 noch: „Denn auch seine Brüder glaubten nicht an ihn“, aber ganz unterschiedliche Quellen berichten, dass seine Mutter Maria und seine Brüder nach seinem Tod zur Urgemeinde gehörten (Ag. 1,14, Gal. 1,19).

In 1. Kor. 9,5 erfahren wir übrigens außerdem, dass die Apostel sowie Jesu Brüder im Gegensatz zu Paulus verheiratet waren, was uns zu der Frage bringt: War auch Jesus verheiratet? Meines Erachtens ist es nicht unmöglich, auch wenn es dafür keine Belege gibt. Dass Petrus und die anderen Apostel verheiratet waren, erfahren wir ja auch nur durch den Nebensatz in 1. Kor. 9,5 sowie (im Falle Petrus) aufgrund des (für uns) glücklichen Umstands, dass die Schwiegermutter des Petrus krank war und von Jesus geheilt wurde. Jesu in mancher heutigen Sensationsschrift vermutete oder behauptete Ehe mit Maria Magdalena entbehrt dagegen jeglicher Basis.

Glaubhaft erscheint, weil auch das an mehreren Stellen erwähnt wird, dass Jesu Bruder Jakobus zum engsten Leitungskreis der Urgemeinde gehörte (1. Kor. 25,7, Gal. 2,9). Von Josef, seinem Vater, erfahren wir dagegen nichts, er wird wohl früh gestorben sein.
 

(4) Lehrtätigkeit

Jesus hat gelehrt. Freund und Feind sprechen ihn mit „Rabbi“ an. „Rabbi“ heißt Lehrer. Das aramäische Wort für „Jünger“ heißt Schüler. Er konnte lesen und schreiben, beides zur damaligen Zeit ein Bildungskennzeichen. Er kannte das Gesetz und die Propheten und die Weisheitsschriften. Auch sein Verhalten und seine Erwiderungen in den überlieferten Streitgesprächen mit den Gelehrten seines Volkes weisen auf einen hohen Bildungsstand hin.

Woher Jesus seine Bildung hatte, wissen wir nicht – mit einer Ausnahme: Er wurde von Johannes getauft, der ihn offensichtlich nicht nur flüchtig kannte. So ist ein Einfluss von Johannes des Täufers auf Jesus anzunehmen – es ist sogar wahrscheinlich, dass Jesus ein Schüler/Jünger von Johannes war, denn ihre Lehrinhalte waren, soweit wir sie kennen, nahezu identisch.

Nach Johannes Gefangennahme begann Jesus seine Lehrtätigkeit. Er bezog ein Lehrhaus in Kapernaum. Hier war sein Lebensmittelpunkt. Von hier aus bereiste er Galiläa und Judäa, um in den Synagogen zu lehren (Lk. 4,15), hierher kehrte er regelmäßig zurück.

Auf eine falsche Spur führt dagegen das Jesuswort „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Mt. 8,20). Daraus hat man geschlossen, Jesus wäre ein heimatloser Wanderprediger gewesen. Dieses Wort weist jedoch schon durch den Begriff „der Menschensohn“ auf eine übertragene, allegorische Ebene. Es ist verwandt mit dem Johanneswort aus Jh. 1,11: Er kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Lukas hat den Gedanken ebenfalls formuliert und zwar ebenfalls in seinem Prolog: „Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge (Lk. 2,7). Es geht also hier um die (Herzens-)Aufnahme des Christus, des Menschensohnes, der unter den Menschen keine Aufnahme und somit keine Bleibe findet.

Tatsächlich jedoch heißt es von dem Rabbi Jesus: „Als nun Jesus hörte, dass Johannes gefangengesetzt worden war, zog er sich nach Galiläa zurück. Und er verließ Nazareth und wohnte in Kapernaum, das am See liegt“ (Mt. 4,12f.). Hier beruft er (nach Gründung seines Lehrhauses) erste Jünger „als er am Galiläischen Meer entlangging … (Mk. 1,16); Petrus der Fischer war ebenfalls in Kapernaum zu Hause (Mk. 1,29). Jesu Lehrhaus wird an vielen Stellen als gegeben vorausgesetzt:

„Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten…“ (Mk. 2,1f.).
- „Und er ging wieder hinaus an den See; und alles Volk kam zu ihm und er lehrte sie“ (Mk 2,13).
„Und es begab sich, dass er zu Tisch saß in seinem Haus, da setzten sich viele Zöllner und Sünder zu Tisch mit Jesus…“ (Mk. 2,15).
„Und sie kamen nach Kapernaum. Und als er daheim war, fragte er sie…“ (Mk. 9,33).

Liest man einmal das Markusevangelium unter diesem Aspekt, so stellt man fest, dass vom Auftreten Jesu bis zu seiner Reise nach Jerusalem, also Mk. 1,14-Mk. 9,49, alles Reisen und Lehren um Kapernaum und das Galiläische Meer kreist.

Was hat Jesus gelehrt? Was von den Überlieferungen ist keine nachösterliche Predigt, sondern Kern der Botschaft des irdischen Jesus?

Wie bereits erwähnt, steht Jesus inhaltlich in der Tradition von Johannes dem Täufer. In Lk. 3,10 ff. wird die zentrale Botschaft des Johannes zusammengefasst. Sie hat in allen Gedanken Parallelen zur Verkündigung Jesu. Vgl. diese Aussagen der Johannes-Verkündigung (Lk. 3,10 ff.) mit der Verkündigung Jesu:

Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe … (vgl. Mt. 4,17)
Bringt rechtschaffene Früchte der Buße … (vgl. Mt. 7,21)
Rechtfertigt euch nicht mit dem Gedanken, dass ihr Nachkommen Abrahams seid …
(vgl. Jh. 8,33 ff.)
Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen … (vgl. Mt. 7,19)
Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat … (vgl. Mt. 5,40 + Mt. 10,10)
Wer zu essen hat, tue ebenso … (Mt. 7,9)
- (An die Zöllner) Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist … (vgl. Lk. 19,8 f.)
- (An die Soldaten) Tut niemandem Gewalt oder Unrecht. Lass Euch genügen an eurem Sold…
(vgl. Mt. 20,25 f.)
Es kommt einer nach mir, der wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen …
(vgl. Ag. 1,5 und Jh. 15,26)
… und er verkündigte dem Volk das Heil … (vgl. Lk. 4,43)

Aufgrund der großen theologischen Nähe zwischen Jesus und Johannes konnte Jesus die Verkündigung des Johannes nahtlos fortsetzen. Das erklärt auch die bis in die Apostelgeschichte nachweisbare Nähe der Johannesjünger und der Jesusjünger.

Weder Johannes noch Jesus haben etwas gelehrt, das über das Alte Testament  und (seine Apokryphen) inhaltlich hinausgeht. Das mag überraschen, es deckt sich jedoch mit Jesu Passion: Er wurde nicht aufgrund seiner Lehre hingerichtet, sondern aufgrund seiner Person. Nicht, was er theologisch verkündigte, sprengte den Rahmen eines jüdischen Rabbis, sondern seine Forderungen nach einer radikalen praktischen Umsetzung dieser Verkündung, die vom theologischen Establishment im Umkreis des Tempels als existenzielle politische Bedrohung empfunden wurde.

    Anmerkung: Eine ausführliche Gegenüberstellung der Lehre Jesu mit den Schriften des Alten Testaments findet sich in dem Artikel „Jesus Christus als Weisheit Gottes“; vgl. die Rubrik „Bibl. Begriffe“. Insbesondere lassen sich alle Gedanken der Bergpredigt im Alten Testament wieder finden. Auch die mit den Worten „Ihr habt gehört… ich aber sage euch…“ eingeleiteten Gegensätze finden sich bereits bei Sirach, dem Buch der Weisheit, im Buch der Sprüche oder in den Psalmen.

Jesus lehrte

- die Nächstenliebe

- die Feindesliebe

- Gottes Nähe und Fürsorge für jeden einzelnen Menschen

- Gottes unverdiente Barmherzigkeit und Zuwendung zum Menschen

- die notwendige, unmittelbare und individuelle Beziehung zwischen Geschöpf und Schöpfer

- das Vertrauen auf Gott wie zu einem Vater

- radikale Gottesnachfolge

- einen Glauben, der sich im Tun beweist

- einen Glauben, der dem Menschen dient (Heilung am Sabbat)

- die Möglichkeit, Gott im Tun seiner Weisungen zu erfahren („empirischer Gottesbeweis“)

- die Sinnhaftigkeit des Leides (alles Leid muss an Gott vorbei)

- Gott als „Richter“, der belohnt und bestraft


Exkurs: Heiltätigkeit

Hat Jesus geheilt? Die Bejahung dieser Frage scheint so selbstverständlich, dass die Frage überraschen muss. Macht man jedoch eine Unterscheidung, die unserem modernen Denken geschuldet ist, ist die Beantwortung dieser Frage nicht mehr so einfach: die Unterscheidung zwischen Jesus Christus dem HEILAND und dem irdischen Jesus als HEILER.

Alle Berichte der Evangelien über Jesus als Heiler sollen dazu dienen, Jesus als Heiland, als Messias auszuweisen. Lesen wir z. B. Lk. 4,18 ff., so stellen wir fest, dass eine Aussage, die Jesaja von sich macht (Jes. 61,1-2), auf Jesus übertragen wird:

18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt,  zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen,
19 zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.«
20 Und als er das Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.
21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.
Lk. 4,17-21

Dasselbe gilt für Mt. 11, 2-6:

2 Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seine Jünger
3 und ließ ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?
4 Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht:
5 Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt;
6 und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.
Mt. 11, 2-6

Jesus nimmt hier Bezug auf Jesaja 29, 18-19 und 35, 4-6:

18 Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen;
19 und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.
Jes 29,18-19

4 Saget den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«
5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden
6 Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande.
Jes 35,4-6

Die alttestamentliche Stellen sprachen von den Tauben, die hören werden, von den Blinden, die sehen werden, von den Lahmen, die gehen werden, von den Stummen, die reden werden, von den Elenden (den Aussätzigen und Besessenen) die rein werden, von den Toten, die lebendig werden. Alle diese Heilungen sind aufs engste verknüpft mit dem Kommen des Heilandes, es sind „Zeichen“, die auf Jesus als den versprochenen Messias hindeuten. Und wieder stellen wir die Frage: Gibt es einen Unterschied zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten? Sind die Heilungsgeschichten real oder sind sie literarische Bilder, allegorische Aussagen? Möchten sie sagen, dass Jesus ein Heiler war oder dass er der Heiland ist?

Es gibt zu denken, dass außerhalb der Evangelien nichts über Jesus den Heiler berichtet wird. Keiner der Briefe des Paulus (geschrieben lange vor den Evangelien), keiner der späteren Briefe (geschrieben nach den Evangelien) berichtet auch nur ein Wort von Jesus dem Heiler. Sie berichten aber auf jeder Seite von Jesus dem Heiland. Auch die Evangelien selbst messen dem Heilen unterschiedliches Gewicht bei. Während das Matthäus-Evangelium über 24 Heilungsberichte beinhaltet, sind es bei Johannes nur vier Berichte. Bei Lukas setzen sich die Heilungswunder in der Apostelgeschichte (auf die Jünger übertragen) nahtlos fort: Sowohl Petrus als auch Paulus können Lahme heilen und sogar Tote auferwecken. Nichts davon berichtet Paulus selbst, obwohl er seitenlang seine apostolische Qualitäten aufzählen kann (z. B. Philipper 3,5 ff.). Im Gegenteil: Paulus berichtet von seinem todkranken Mitarbeiter Epaphroditus, der offensichtlich auf ganz „normalem“ Wege gesund geworden ist (Philipper 2,27), ohne dass ein Zutun des Apostels erwähnt wird; er berichtet von seinem Mitarbeiter Timotheus, der oft krank ist, der aber nicht geheilt wird. Paulus schlägt ihm statt dessen vor, regelmäßig ein wenig Wein „um des Magens willen“ zu trinken (1. Tim. 5,23). Paulus selber hat eine unheilbare Krankheit („ein Pfahl im Fleisch“), die trotz dreimaligen Flehens nicht geheilt wird. Da scheint weder die Krankensalbung nach Jakobus 5,14-15 noch die in 1.Kor. 12,9 erwähnte „Gabe, gesund zu machen“ etwas ausrichten zu können.

    Anmerkung: Interessant an diesen Berichten ist jedoch, dass den Kranken (Epaphroditus, Timotheus, Paulus) nicht der Glaube abgesprochen wird. Zur Zeit Jesu war das Denken der Freunde Hiobs noch weit verbreitet: Wer krank ist, hat einen Dämon. Er ist aus der Gnade Gottes gefallen. Erst mit der Heilung wird er wieder „rein“. Dämonenaustreibung zur Zeit Jesu ist deshalb Krankenheilung und umgekehrt. So heißt es an der Stelle, wo Jesus die fieberkranke Schwiegermutter des Petrus heilt: „Und er trat zu ihr und gebot dem Fieber, und es verließ sie.“ (Lk. 4,39)

Also: weite Teile des Neuen Testaments kommen ohne Heilungswunder aus, aber nicht ohne das Evangelium vom Heiland.

Noch etwas gibt im Zusammenhang mit den Heilungswundern zu denken: Sie geschehen alle an Menschen „von außen“, die (noch) nicht in der Nachfolge Jesu stehen. Hier wird wieder der Zeichencharakter der Heilung deutlich: Jesus „öffnet die Augen“, er „richtet Menschen auf“, er gibt Menschen Kraft, ihren Weg zu gehen (statt von anderen getragen zu werden), er nimmt ihre Sünden weg und macht sie „rein“ vor Gott, er „öffnet ihre Ohren“ („Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ vgl. Mk. 8,18), er macht sie lebendig, er schenkt ihnen „neues Leben“. Auch das spricht eher dafür, dass die Evangelien von Jesus als dem Heiland und nicht als dem Heiler berichten.

(5)   Zuwendung zu den Randgruppen

Jesu Zuwendung zu den Randgruppen war anstößig, deshalb auch kaum erfunden. Natürlich kann man wieder auf das Alte Testament verweisen: Der Messias wird Heil nicht nur den etablierten Frommen bringen, sondern auch den „Elenden“ und den „Ärmsten“ (Jes. 29,18-19). Doch Jesu konkreter Umgang mit Randgruppen geht über diese summarischen Beschreibungen hinaus.

Er hat Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern (Mt. 9,10 f. – das gilt übrigens bereits für seinen vermuteten Lehrer Johannes, vgl. Mt. 21,32: „Die Zöllner und Huren glaubten ihm.“)

Er geht aktiv auf Aussätzige zu (Mt. 26,6; Mk. 1,40 ff.).

Er beweist eine wertschätzende Haltung gegenüber Frauen, die seine Tätigkeit z.T. finanziell unterstützen, z.T. zu seinen Jüngerkreis gehören (z. B. Maria und Martha, vgl. Lk. 8,1-3). Er „ent-schuldigt“ die Ehebrecherin (Jh. 8,11) und fordert für die verheirateten Frauen mehr existenziellen Schutz (Mt. 19,3 ff.).

Jesus wendet sich auch den Kindern zu:

13 Und sie brachten Kinder zu ihm, damit er sie anrühre. Die Jünger aber fuhren sie an.
14 Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig und sprach zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes.
15 Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.
16 Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie.
Mk. 10,13-16

Zwar gibt es auch hier ein alttestamentliches Wort über die Kinder: „Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet“ (Ps. 8,3). Dieses Wort wird in Mt. 21,16 aufgegriffen. Bei der Kindersegnung sind die Kinder jedoch passiv, sie loben nicht und verkünden nicht. Sie werden vielmehr von ihren Müttern gebracht und trotz des Unwillens der Jünger von Jesus gesegnet.

Zu Jesu Zuwendung zu den Randgruppen vgl. auch Lk. 14,12-14:

12 Er sprach aber auch zu dem, der ihn eingeladen hatte: Wenn du ein Mittags- oder Abendmahl machst, so lade weder deine Freunde noch deine Brüder noch deine Verwandten noch reiche Nachbarn ein, damit sie dich nicht etwa wieder einladen und dir vergolten wird.
13 Sondern wenn du ein Mahl machst, so lade Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde ein,
14 dann wirst du selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten; es wird dir aber vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten.
 

(6)   Konflikt mit dem römischen und jüdischen Establishment und Kreuzigung

Solange Jesus in Kapernaum und in Galiläa wirkte, nahmen Römer und Tempelgeistliche kaum Notiz von ihm. Das änderte sich, als er seine Predigttätigkeit nach Judäa und vor allem nach Jerusalem verlegte. Vieles deutet darauf hin, dass Jesus dies selbst bewusst war und er die Konfrontation bewusst gesucht hat. Dabei müssen auf jeden Fall zwei Ereignisse historisch sein, weil es keinen Grund gab, sie zu erfinden, aber viele Gründe, sie zu verschweigen: Das Gebet im Garten Gethsemane und die Kreuzigung.

(a) Gethsemane

Laut Wikipedia war Gethsemane eine Lagerstätte für Pilger auf dem Weg zum Passahfest. Trotz dieser genauen Ortsangabe spielt sich das Entscheidende im Kopf Jesu ab, so dass der Bericht in dieser Form fiktiv ist und in verdichteter, literarischer Weise zum Ausdruck bringen will, dass Jesus vor den Konsequenzen seines Tuns (Konfrontation mit Tempelgeistlichen und Römern) große Angst hatte: „und er fing an zu zittern und zu zagen und er sprach zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod“ (Mk. 14,33 f.). Dass Jesus Todesangst spürte und Gott um Verschonung bat („nimm diesen Kelch von mir“, Mk. 14,36) hätten die Evangelisten ebenso wenig erfunden wie das schmähliche Versagen der Jünger, die von Jesus aufgefordert waren, mit ihm zu wachen und zu beten, aber: „Er fand sie schlafend“ (Mk. 14,37).

(b) Kreuzigung

Die Kreuzigung Jesu entsprach so wenig der jüdischen Messiaserwartung und passte so wenig in den Erwartungshorizont der Jünger, dass es ganz und gar unmöglich erscheint, dass dieses zentrale Ereignis erfunden worden wäre. Dafür gibt es keinen einleuchtenden Grund, keinen „Sinnanker“ im Alten Testament. Jesus wurde hingerichtet als „König der Juden“, ein Titel, den noch Herodes der Große trug (gest. 4 n.Chr.), den seine Söhne auf römischen Befehl jedoch nicht mehr tragen durften. Jeder, der sich anmaßte, „König der Juden“ zu sein, beleidigte den römischen Kaiser und machte sich des Todes schuldig. Das traf auf alle zu (und davon gab es viele), die mit dem Anspruch auftraten, der Messias der Juden zu sein. Denn die Messiaserwartung ging von einem König aus, der das Volk Israel aus der Knechtschaft der Römer befreien und das Königtum Davids wieder aufrichten würde. Hinter jedem „Messiasanwärter“ sah die römische Besatzungsmacht eine politische, „terroristische“ Bedrohung. Volksaufstände wurden aufgrund bitterer Erfahrungen in der Vergangenheit durch die Hinrichtung ihrer Anführer sofort im Keim erstickt.

War Jesus ein „politischer“ Messias, der als Führer einer potentiell gefährlichen Volksbewegung hingerichtet wurde? Die Evangelien verneinen diese Frage. Pilatus bejaht diese Frage durch sein Todesurteil.

Wurde Jesus von den Sadduzäern (der religiösen Führungsschicht der Juden) denunziert? Wurde er gekreuzigt, weil dieser Tempelkaste seine Predigt ein Dorn im Auge war? Weil sie ihre Pfründe durch die Lehre Jesu bedroht sahen? Die Evangelien bejahen diese Frage. Es lässt sich historisch jedoch nicht absichern, weil wir keine Quellen außerhalb der Evangelien kennen und weil die Evangelien zur Zeit ihrer Abfassung (Christenverfolgung) ein hohes Interesse daran hatten, die „Schuld“ der Römer an Jesu Kreuzigung herunterzuspielen und diese „Schuld“ ganz bei „den Juden“ anzusiedeln (Mk. 15,6-15). Zweifel sind angebracht, weil Pilatus in außerbiblischen Quellen als hart, grausam und konfrontativ beschrieben wird. Er wäre den Sadduzäern nicht so leicht willfährig gewesen, wenn er nicht zumindest eine Gefahr für Rom angenommen hätte. So muss der Ablauf des „Prozesses Jesu“ (vorläufig?) im Dunkeln bleiben. Auch alles, was nach der Kreuzigung geschah, entzieht sich der exakten Geschichtsschreibung. Das gilt erst recht für die Erfahrung der Auferstehung Jesu, die sich uns im Glauben und in der persönlichen Gotteserfahrung erschließt.

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