Ein Tag muss sterben

Ein Tag muss sterben
 

Es war einmal ein Tag, dessen Zeit neigte sich dem Ende zu. Schon färbte sich der Horizont von Gelb zu Orange. Bald würde die Sonne sinken und der Tag für immer vergehen. Dieser Gedanke löste im Tag tiefe Trauer und Verzweiflung aus. Es war eigentlich ein heiterer und interessanter Tag gewesen. Und jetzt sollten alle Begebenheiten und alle Erinnerungen unwiderruflich verlöschen? Welchen Sinn hatte sein kurzes Leben dann?

Wie ihm ging es auch den anderen Tagen. Sie erlebten schöne und traurige Zeiten und zum Ende ihrer Zeit waren sie klüger und abgeklärter. Doch mit dem unerbittlichen Ticken der Uhren kam ein jeder von ihnen an sein trauriges Ende. Nie wieder würden sie erwachen. Keine Freude konnte wiederholt, kein Unrecht korrigiert werden. Jeder Tag erlebte einen hoffnungsvollen Beginn und ein hinausdämmern ins Nichts.

Doch dann geschah etwas Unglaubliches. Jeder Tag erwachte zu neuem Leben. Er war einfach wieder da! Aber nicht so, dass er seiner Zeit und seinem Leben etwas hinzufügen hätte können. Er war abgeschlossen und vollendet. Aber auf für ihn unerklärliche Weise fand er sich eingebettet in ein größeres Ganzes. Sein Bewusstsein sprengte alle seine Grenzen nach hinten und nach vorne. Er war plötzlich eins mit unendlich vielen Tagen vor ihm und unendlich vielen Tagen nach ihm. Er war noch er selbst, aber gleichzeitig und auf einen Schlag Teil eines Bewusstseins, das er sich nie hätte erträumen können. Er stand in Beziehung zu anderen Tagen. Er konnte, in seinem neuen Bewusstseinszustand, mit jedem anderen Tag kommunizieren, ja, mit vielen sogar gleichzeitig und ohne ein Wort zu verlieren.

Der Tag war jetzt Teil eines neuen Seins. Er konnte „er selbst“ sein, mit allem, was er einmal war. Gleichzeitig konnte er sich „von außen“ wahrnehmen und seine Rolle im Ganzen der Zeit bedenken. Wie jeder andere Tag auch, wurde er zum Richter seiner selbst. Und zu seinem Verteidiger. Er erlebte sich als Täter, als Opfer, als Freund, als Feind, als sanft oder stürmisch, als liebevoll oder grausam. Auf wundersame Weise verschmolzen alle diese Wahrnehmungen aller dieser Tage zu einer Gesamterfahrung. Sein neues Selbst nannte sie „Leben“. –

Es war einmal ein Mensch, dessen Leben neigte sich dem Ende zu. Da wurde ihm bang ums Herz. Seine Endlichkeit quälte ihn zutiefst. Sollte das Alles gewesen sein? Das Leben war doch trotz vieler trauriger und schmerzhafter Erfahrungen immer noch besser als der Tod. Ja, er spürte Dankbarkeit für alles Erlebte. Aber die Angst vor dem Nichtsein und vor ewiger Vernichtung löste in dem Menschen Phasen blanken Entsetzens aus.

Und da hatte der Mensch kurz vor seinen Tod eine Vision. Wie im Traum versammelten sich um ihn alle Tage seines Lebens. Plötzlich waren sie da und zogen an ihm vorüber und bildeten um ihn einen großen, schützenden Kreis. Sie schienen ihm so freundlich, so abgeklärt, so licht. Wo kamen sie her? Sie waren doch längst vergangen?

Da begann der Mensch zu verstehen. Und er erkannte, dass die Tage in allem Werden und Vergehen „er selbst“ waren. Und eine Sehnsucht überfiel ihn: Mit ihnen und mit vielen anderen Tagen und Leben aufzugehen in einem neuen, größeren Bewusstsein. Freude kam in ihm auf. Es war die freudige Vorahnung einer Zukunft in einer neuen Dimension. Es war die Freude auf ein spannendes neues Sein. Hinter den Tagen, die sich um den Menschen versammelt hatten, traten nun Wesen hervor, die einen noch viel größeren Kreis um ihn bildeten. Der Mensch erkannte Freunde, Bekannte, Familienglieder, aber auch Fremde, die vor ihm waren und Fremde, die nach ihm kamen. Sie alle begrüßten den Neuankömmling in seinem neuen Sein, das gleichzeitig das geteilte Sein aller war. Er war nun nicht mehr nur er selbst. Seine Persönlichkeit, so klar sie auch vor ihm stand, war eingebettet und eins mit allem Leben. Tiefer Friede umfing den Menschen – gepaart mit aufkeimender Lust auf das Neue und mit Tatendrang, mit dem er sein irdisches Leben plötzlich mit Lichtgeschwindigkeit und ohne Bitterkeit hinter sich ließ.
 


Paulus:
Auf dass Gott alles in allen sei“
1Kor 15,28