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Biblische Begriffe (6): DAS KREUZ

DAS KREUZ – Eine paulinische Umdeutung

Einleitung

2000 Jahre nach der Kreuzigung des jüdischen Rabbis Jesus von Nazareth ist das Kreuz als christliches Symbol allgegenwärtig. Wir sehen es auf Kirchturmspitzen, auf Grabsteinen und in Traueranzeigen, auf den Flaggen vieler Nationen, im Wappen adeliger Geschlechter oder in Vereinsabzeichen und Firmenlogos. In unserer weitgehend nachchristlichen Gesellschaft hat es das Kreuz von den Halsketten mittelalterlicher Würdenträgern bis zu den goldenen Ketten wohlhabender Partygänger in aller Welt geschafft.

Diese Entwicklung nachzuzeichnen ist nicht das Ziel meiner Ausführungen zum christlichen Kreuzesbegriff. Vielmehr geht es um die Frage: Was sind die Wurzeln und Anfänge des Kreuzessymbols? Denn zu unserer Überraschung trat das Kreuz seinen Siegeszug sehr spät an. Die ersten Christengenerationen hätten das Kreuz nicht als christliches Erkennungszeichen erkannt. Für sie war es ein Symbol römischer Macht und Herrschaft. Es war ein Folter- und Hinrichtungswerkzeug.

Die ersten Christen hatten noch gar kein Symbol, aber ein inneres Bild. Man nannte sie „die des Weges sind“ oder „Anhänger des neuen Weges“. Es war Markus, der dieses Bild „populär“ machte, indem er Jesus von Galiläa nach Jerusalem aufbrechen lässt, wo er „auf dem Weg“ seine Jünger unterweist. Lukas greift das Bild in der Apostelgeschichte auf („unterwiesen im Weg des Herrn“, Apg 18,25) und Johannes schließlich verdichtet das Bild in seine Kernaussage über Jesus: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“
 (Joh 14,6).

Das erste Erkennungszeichen „derer vom Weg“ war der Fisch. Wir finden das Zeichen bereits als Wandmalerei in frühchristlichen Grabstätten. Der Fisch steht dort oft in Verbindung mit der wundersamen Brot- und Fischvermehrung, die ebenfalls von einer Markuserzählung ihren Ausgang nimmt. Der Fisch symbolisiert den von „Menschenfischern“ aus den bedrohlichen Chaosfluten geretteten Christen. Im griechisch sprechenden Heidenchristentum hat man dann aus den Buchstaben des griechischen Wortes für Fisch (I/Ch/Th/Y/S) ein frühes Glaubensbekenntnis formuliert: Iesous Christos Theou Yios Soter (= Jesus Christus Gottes Sohn Erlöser).

Als weiteres Erkennungszeichen verwendeten die Heidenchristen (noch vor dem Kreuz) das sogenannte Christusmonogramm. Es besteht aus den griechischen Buchstaben X (= Ch) und P (= R), also der ersten beiden Buchstaben des griechischen Wortes Ch R istus. Es ist seit dem 2. Jh. bekannt und wurde später, als das Kreuz seinen Siegeszug begann, ornamental in Kreuzform angeordnet (X plus P =    und später Staurogramm).

Das Kreuz war also bis ins 3. Jh. in der römischen Welt ein schreckliches Folter- und Hinrichtungswerkzeug, das man nur ungern vor Augen hatte. Der römische Politiker und Schriftsteller Cicero schrieb ca. 60 v. Chr.: „Was Kreuz heißt, soll nicht nur vom Leib der Bürger Roms fernbleiben, sondern auch schon von ihrer Wahrnehmung, ihren Augen und Ohren.“ Vielleicht ist das mit ein Grund, warum über die Praxis der Kreuzigung auffallend wenig überliefert ist.

Nehmt euer Kreuz auf euch

Auch im Neuen Testament wird das Kreuz selten erwähnt. Die Vorstellung vom Kreuz als Symbol der Versöhnung mit Gott finden wir nur bei Paulus. Seinem Kreuzesbegriff verdanken wir also die für uns so geläufige symbolische Aufladung dieses Zeichens. Bevor ich den Gedankengang des Paulus nachzeichne, möchte ich noch kurz auf zwei andere Bilder hinweisen, die (wiederum von Markus ausgehend) mit dem Kreuz verknüpft wurden.

Das erste ist die Aufforderung: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mk 8,34). Hier steht noch nichts vom stellvertretenden Kreuzestod. Im Gegenteil: Jeder Jünger ist aufgefordert, sich Jesus als Vorbild zu nehmen und sein eigenes Kreuz zu tragen. Das Kreuz wird noch nicht als Siegeszeichen Jesu gesehen, sondern als Zeichen für Verfolgung, Marter und Tod der Christen in Jesu Nachfolge. Es steht als Zeichen des Martyriums, für den Preis, den ein Jünger, wie sein Meister Jesus Christus, auf dem Weg zu Gott zu zahlen bereit sein soll.

Das zweite, wofür das Kreuz bei Markus steht, ist die Taufe. Sein Evangelium ruht auf drei Säulen:

(1) Die Taufe Jesu (= Tod des alten Selbst, Erneuerung zu einem gottgeweihten Menschen
(2) Die Reaktion Jesu auf die Jünger, die zu Jesu Rechten und Linken sitzen wollen (um mit ihm zu herrschen, Mk 10,37) und die Jesus fragt:

Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.“ (Mk 10,38-40)
Die Taufe, mit der ich getauft werde“ ist schließlich
(3) Jesu Tod am Kreuz. Jetzt stirbt nicht das alte Selbst, sondern der irdische Mensch, der zu einem neuen Leben aufersteht. Auch hier ist das Kreuz also noch nicht Symbol für Jesu stellvertretenden Tod, weil die Jünger antworten: Ja, diesen Kelch (= die Kreuzigung) können wir auch trinken. Und Jesus gibt ihnen Recht:”Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde“ (Mk 10,39).

So sieht Markus entsprechend dieser drei Säulen (s. o.) Jesus und seine Jünger in einer Schicksalsgemeinschaft von der ersten Taufe über ein Leben im Dienst des Mitmenschen (Mk 10,44) bis zur zweiten Taufe im Märtyrertod. Der Gedanke von Jesu Tod als ein „Lösegeld für viele“ ist Markus natürlich schon vertraut. Er verbindet ihn aber nicht zeichenhaft mit dem Kreuz, denn er spricht zwar von Jesu Tod als Sühne für die Menschen, erwähnt aber das Kreuz mit keinem Wort. Das gilt übrigens auch für die drei sogenannten Leidensankündigungen (Mk 8,31; 9,31; 10,33-34). Hier weist Jesus deutlich auf sein Leiden und Sterben hin, wobei wiederum das Kreuz keine Erwähnung findet
Wenn wir nun die Kreuzessymbolik bei Paulus verstehen wollen, so müssen wir etwas weiter ausholen. Sie ist nämlich aus seiner Heidenmission heraus entstanden und nur aus dieser verständlich.

Ein Mann wird bekehrt

Paulus stammt aus einer jüdischen Familie in Tarsus in Zilizien, einem Mittelpunkt griechischer Kultur und Wissenschaft. Sein Vater, ein Pharisäer, schickt ihn als Jugendlichen nach Jerusalem, um ihm eine gründliche Kenntnis der Schrift sowie der rabbinischen Überlieferungen und Rhetorik zu ermöglichen. Daneben erlernt er nach jüdischer Sitte ein Handwerk (Zelt- oder Tuchmacher).

Paulus war ein begeisterter, ein „eifernder“ Pharisäer. Als religiöser Agent ist er im Auftrag der jüdischen Obrigkeit Jerusalems unterwegs, um die aus seiner Sicht christlichen Irrlehrer aufzuspüren. Auf einer dieser Erkundungsreisen kommt es vor Damaskus zu jenem einschneidenden Erlebnis, das buchstäblich die ganze Welt verändern sollte: Paulus hat eine Christusvision und wird alsbald Mitglied in der jüdischen Sekte, die er bisher verfolgt hat und die durch ihn in den kommenden Jahren fast auseinanderbricht.

Die Vision selber beschreibt Paulus in seinen Briefen mehrmals:

– Zuletzt von allen ist er  [Jesus] auch von mir als einer unzeitigen Geburt (=viel später als von der Urgemeinde) gesehen worden (1 Kor 15,3-11)

– Als es aber Gott wohlgefiel […], dass er seinen Sohn offenbarte in mir, damit ich ihn durchs Evangelium verkündigen sollte unter  den Heiden … (Gal 1,15-16)

– Bin ich nicht frei? Bin ich nicht ein Apostel? Habe ich nicht unseren Herrn Jesus gesehen? (1 Kor 9,1)

Im Vergleich zu den bildhaften Ausschmückungen in der Apostelgeschichte (Ag 9,1ff; 22,6ff; 26,12ff) fehlt bei Paulus alles Wundersame und Sensationelle. Was aber auch Lukas in allen drei Berichten festhält, ist das Wichtigste: dass mit der Bekehrung des Paulus gleichzeitig ein Auftrag verbunden ist, nämlich die Sendung zu den Heiden. Wie kommt es dazu?

Gottesfürchtige Menschen

Von den „Juden“ zu den „Heiden“ gibt es eine Brücke, der viel zu wenig Beachtung geschenkt wird: die „Gottesfürchtigen“. Wenn wir mit unserem heutigen Verständnis die Formulierung lesen: Er war ein gottesfürchtiger Mensch“, dann bedeutet es für uns nichts anderes als: er war ein frommen Mensch. Die Gottesfürchtigen waren jedoch damals eine ziemlich genau umrissene Gruppe innerhalb des Judentums. Es waren „Heiden“, die nicht formal zum Judentum übergetreten waren (diese nannte man „Proselyten“), die aber eng mit der jüdischen Gemeinde verbunden waren. Sie hielten (ohne zwingende Verpflichtung) das Sabbatgebot, die mosaischen Speisegesetze und zahlten die Tempelsteuer. Sie ließen sich jedoch nicht beschneiden und unterstanden nicht der jüdischen Glaubensobrigkeit. Als engen Freundeskreis finden wir die Gottesfürchtigen in allen Synagogen im römischen Reich.

Es ist auffallend, wie häufig diese Personengruppe vor allem in der Apostelgeschichte in Erscheinung tritt. So ist es ein Gottesfürchtiger, der als erster Heide Christ wird (Apg 10,2ff.). Es ist ein Gottesfürchtiger, der Paulus als Erster im neuen Glauben unterweist (Apg 22,12). Die Gottesfürchtigen werden in der ersten Missionspredigt, die Paulus hält, direkt angesprochen (Apg 13,16+26). Es wird vermerkt, dass gerade aus ihrem Kreis viele zum Glauben kamen (13,43). Sie werden von der jüdischen Gemeinde (wohl als Reaktion auf die erfolgreiche Mission des Paulus) gegen Paulus aufgehetzt (Apg 13,50). Mit Lydia, einer Gottesfürchtigen, gründet Paulus die Gemeinde in Philippi (Apg 16,14). Auch in Thessalonich sind es vor allem die Gottesfürchtigen, die sich Paulus anschließen (Apg 17,4), dasselbe geschieht in Beröa (Apg 17,12) und Korinth (Apg 18,4+7).

Aus dem Gesamtbild wird deutlich: Es kommen zwar in den Synagogen auch Juden zum Glauben, vor allem aber bekehrt Paulus die dort anwesenden Gottesfürchtigen. Diese sind von ihrer Umwelt nicht so abgekapselt wie die jüdische Gemeinde, und es sind sie, die das Evangelium von Jesus Christus in ihr Umfeld tragen. Die bekehrten Gottesfürchtigen treffen sich nach den regelmäßig auftretenden Konflikten mit der jüdischen Gemeinde in separaten Versammlungen. So entstehen die ersten heidenchristlichen Gemeinden.

Die Gottesfürchtigen sind deshalb eine entscheidende Brücke zur Heidenmission, weil sie einerseits nicht formell zum Judentum übergetreten waren, andererseits mit der jüdischen Geschichte und Religion bestens vertraut waren. Für sie eröffnete sich mit Paulus plötzlich ein Weg, nicht mehr „Juden 2. Klasse“ zu sein, sondern als Ziel Gottes Handelns und von Gott selber herausgerufen worden zu sein zum Heil. Nicht die Beschneidung führte zu diesem Heil, sondern der entscheidende Satz aus Joel 3,5 in der Pfingstpredigt des Petrus: Wer des Herrn Name anrufen wird, der soll errettet werden.

Diesen ersten, von den Gottesfürchtigen geprägten, Gemeinden drängte sich die Frage auf, wie sinnvoll dann noch der formale Akt der Beschneidung für sie war. Erstens waren sie ohnehin nicht beschnitten (und wollten es auch nicht sein), zweitens erfuhren sie sich ja gerade aus den Synagogen herausgedrängt, als Anhänger einer häretischen jüdischen Bewegung. Paulus, dem die „Beschneidung des Herzens“ (= aufrichtiger, hingebungsvoller Glaube) wichtiger war als kultische Handlungen (Rö 2,29), solidarisierte sich mit den Gottesfürchtigen. Das geschah schon in der ersten von ihm gegründeten Gemeinde in Antiochien, wo ihm von der Synagoge nach anfänglichem Interesse Neid und Ablehnung entgegenschlugen. Daraufhin berichtet Lukas:

„Am folgenden Sabbat aber kam fast die ganze Stadt zusammen, das Wort Gottes zu hören. Als aber die Juden die Menge sahen, wurden sie neidisch und widersprachen dem, was Paulus sagte, und lästerten. Paulus und Barnabas aber sprachen frei und offen: Euch musste das Wort Gottes zuerst gesagt werden; da ihr es aber von euch stoßt und haltet euch selbst nicht für würdig des ewigen Lebens, siehe, so wenden wir uns zu den Heiden. Denn so hat uns der Herr geboten (Jesaja 49,6): „Ich habe dich zum Licht der Heiden gemacht, damit du das Heil seist bis an die Enden der Erde.“ Als das die Heiden hörten, wurden sie froh und priesen das Wort des Herrn, und alle wurden gläubig, die zum ewigen Leben bestimmt waren. Und das Wort des Herrn breitete sich aus in der ganzen Gegend“ (Apg 13,44-49).

„Euch musste das Wort zuerst gesagt werden. Da ihr es aber von euch stoßt (…) so wenden wir uns zu den Heiden“: Der Zusammenhang macht deutlich: mit den Heiden sind die Gottesfürchtigen gemeint.

Mit der Loslösung von der Synagoge und der neuen Eigenständigkeit als „gottesfürchtige Christen“ gingen die neu gegründeten Gemeinden den nächsten Gedankenschritt und nahmen Paulus gleich mit: Wenn unser Heil nicht an der Beschneidung hängt und wir mit unseren ehemaligen Freunden in der Synagoge keine Mahlgemeinschaft mehr haben, dann können wir auf die strengen Speisevorschriften auch verzichten. Das Ergebnis dieses Prozesses führte schließlich zu einer Unterscheidung, die zum Kern des sich anbahnenden Konfliktes wurde. Dieser Konflikt war neu.

Kultisches und ethisches Gesetz

Durch seine Solidarisierung mit den Gottesfürchtigen entfernte sich Paulus auf doppelte Weise von der Partei der Pharisäer, die ursprünglich sein geistliches Zuhause war: Im ersten Schritt war er zu denjenigen Juden übergelaufen, die in Jesus den Messias, den Christus sahen. Bis hierher war er aber auch nach dem Verständnis der Pharisäer selber noch Jude, wenn auch geistlich irregeleitet. Im zweiten Schritt macht er Jesus, so wie er ihn jetzt verstand, zum universellen Herrscher, losgelöst von den Weisungen des mosaischen Gesetzes. Jesus war jetzt für ihn nicht nur der Messias der Juden (sodass man Jude werden musste, um Zugang zu diesem Christus zu erhalten), sondern der Messias der ganzen Welt. Wichtig war nur, auf ihn zu hören, ihn aufzunehmen, seinen Herrschaftsanspruch anzuerkennen. Paulus begriff dieses gedankliche Ergebnis als den Endpunkt einer Entwicklung, die er am eigenen Leib erfahren hatte. Er empfand sich immer noch als Jude, aber jetzt (durch Gottes Impuls und Eingreifen) als transformiert zum universellen Juden. Aus der Engführung (der Heide muss erst Jude werden zu seinem Heil) entwickelt Paulus Hand in Hand mit den Gottesfürchtigen eine Weitung (der Jude darf sein „Erstlingsrecht“ loslassen und „in Christus“ mit den Heiden, die „den Namen des Herrn anrufen“, bedingungslose Gemeinschaft haben).

Diese Weitung erreicht Paulus nur durch einen bemerkenswerten Kunstgriff, vermutlich ebenfalls in der positiven Auseinandersetzung mit den zu Christus bekehrten Gottesfürchtigen. Denn die Loslösung vom mosaischen Gesetz birgt die Gefahr des Rückfalls in heidnische Werte und Praktiken. Paulus trifft deshalb eine bedeutsame Unterscheidung zwischen kultischem und ethischem Gesetz – eine Unterscheidung, die die Tora so nicht vorsieht. Kultisches Gesetz – das ist für Paulus die Religionspraxis, die die äußere Identität der jüdischen Gemeinschaft definiert: Beschneidung, Speisevorschriften, Opferkult, Sabbat und die Einhaltung weiterer Festtage. Ethisches Gesetz – das ist für Paulus das von Gott gebotene sittliche Handeln: nicht stehlen, nicht ehebrechen, Vater und Mutter ehren, über allem die Liebe zu Gott und dem Nächsten.

Wenn das doppelte Liebesgebot (Gott lieben über alles und den Nächsten wie dich selbst) der Inbegriff und die Quintessenz des Gesetzes ist, dann lassen sich daraus zwar ethische, aber eben keine kultischen Handlungen ableiten. Deshalb klingt Paulus oft so widersprüchlich, wenn er vom Gesetz redet: Nein, es ist nicht mehr gültig (= das kultische Gesetz); ja, es ist und bleibt gültig (= das ethische Gesetz).

Nun passiert aber ein weiteres: Dadurch dass Paulus den kultischen Rahmen des Gesetzes aufhebt und das ethische Gesetz in den Mittelpunkt stellt, erkennt er, dass der Mensch in seinem ethischen Handeln nicht perfekt sein kann. Diese Unzulänglichkeit („Sünde“) wird im kultischen Gesetz aufgefangen, z. B. durch das Opferwesen oder durch den Versöhnungstag. Im Kult wird das einzelne Gemeinschaftsmitglied also immer wieder entsühnt und auf priesterlichem Wege rein gemacht für das Bestehen vor Gott:

„Danach soll er den Bock, das Sündopfer des Volks, schlachten und sein Blut hineinbringen hinter den Vorhang und soll mit seinem Blut tun, wie er mit dem Blut des Stieres getan hat, und etwas davon auch sprengen gegen den Gnadenthron und vor den Gnadenthron und soll so das Heiligtum entsühnen wegen der Verunreinigungen der Israeliten und wegen ihrer Übertretungen, mit denen sie sich versündigt haben. So soll er tun in der Stiftshütte, die bei ihnen ist inmitten ihrer Unreinheit.  Kein Mensch soll in der Stiftshütte sein, wenn er hineingeht, Sühne zu schaffen im Heiligtum, bis er herauskommt. So soll er Sühne schaffen für sich und sein Haus und die ganze Gemeinde Israel“ (3Mo 16,15-17).

Ohne Kult fehlten den Menschen diese „Instrumente“. Wie soll die paulinische Gemeinde ohne kultisches Gesetz vor Gott bestehen? Dies ist das zentrale Thema in den Briefen, die Paulus an seine Gemeinden schreibt. Mit seiner Antwort sind wir Heutigen (in paulinischer Tradition Stehenden) bestens vertraut: Gott weiß, dass wir unvollkommene Menschen sind. Durch Jesus Christus lässt er uns sagen, dass er uns trotzdem willkommen heißt, so wie wir sind. Unsere Gotteskindschaft hängt nicht von Leistung ab (= perfekter Einhaltung aller sittlichen Gebote), sondern von der Bereitschaft, in Gottes einladende Hand einzuschlagen. So können wir wachsen und reifen. Alle unsere Sünde und Unzulänglichkeit dürfen wir (soweit wir nicht mutwillig damit umgehen) mitbringen. Das „Instrument“ für ihre „Vernichtung“ ist Jesus Christus. In seiner grenzenlosen Liebe ist Platz, ist vergebendes Verständnis für unsere Begrenztheit.

Für diesen Vorgang, dass nämlich alles „Sündhafte“ in mir von Christus gleichsam aufgesogen und durch seine Liebe zu uns vernichtet wird, findet Paulus ein ausdrucksstarkes Bild. Er sagt: Alle unsere Sünde ist mit Christus ans Kreuz genagelt (Gal 6,14f). Das können wir, so sagt er, als sichtbaren Ausdruck für Gottes Vergebung nehmen. So wird das Kreuz aus einem Symbol des Todes in ein Symbol der Liebe und Vergebung Gottes verwandelt. Nicht, weil Gott ein Opfer gebraucht hätte für die Vergebung menschlicher Schuld, sondern umgekehrt: Er hat uns, wenn wir zum ihm kommen, längst vergeben. Das Kreuz steht dafür als Zeichen, gewissermaßen als „amtliches Siegel“, als Sinnbild vergebener, vernichteter Sünde. So also verwandelt Paulus ein römisches Folterwerkzeug, dessen Namen man fast nicht auszusprechen wagte, in ein Zeichen der triumphalen Liebe Gottes zu allen Menschen.

Es ist also nicht so, dass Jesus am Kreuz sterben musste, weil Gott "Satisfaktion" brauchte für seine vom Menschen verletzte Ehre (eine im Mittelalter geläufige Vorstellung). Er brauchte auch niemanden, den er für die Schuld der ganzen Menschheit büßen lassen musste. Christus starb nicht am Kreuz, um Gottes Strafprinzipien zu wahren. Vielmehr starb er, weil er von Menschen, die in ihm und seiner Botschaft eine Gefahr für ihre Macht sahen, zu Tode gebracht wurde. Diese Sichtweise lässt sich gut untermauern durch ein Gleichnis, das uns aus dem Matthäusevangelium überliefert wird:

Es war ein Hausherr, der pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter darin und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. Als nun die Zeit der Früchte herbeikam, sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, damit sie seine Früchte holten. Da nahmen die Weingärtner seine Knechte: den einen schlugen sie, den zweiten töteten sie, den dritten steinigten sie. Abermals sandte er andere Knechte, mehr als das erste Mal; und sie taten mit ihnen dasselbe. Zuletzt aber sandte er seinen Sohn zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sprachen sie zueinander: Das ist der Erbe; kommt, laßt uns ihn töten und sein Erbgut an uns bringen! Und sie nahmen ihn und stießen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn. (Mt 21, 33-39)

Matthäus beschreibt in seinem Gleichnis den Tod Jesu als Mord durch die religiöse jüdische Obrigkeit, die so hofft, ihre Pfründe wahren zu können und die nicht bereit ist, Gott das seine zu geben. Kein Wort steht hier von der vergebenden Kraft des Kreuzes! Es ist erst Paulus, der "das Wort vom Kreuz" (1Kor 1,18) einführt als Bild für Gottes Liebe (!), der "Friede macht am Kreuz" (Kol 1,20). Statt einmal im Jahr ein Versöhnungsfest zu feiern, können wir täglich, ja jederzeit, unsere Schuld am Kreuz abladen. Christus empfängt uns mit ausgebreiteten Armen.

 

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