Mk 2, 13-17

Markus 2, 13-17    Wunderheiler oder Heiland?

13 Und er ging wieder hinaus an den See; und alles Volk kam zu ihm und er lehrte sie.
14 Und als er vorüberging, sah er Levi, den Sohn des Alphäus, am Zoll sitzen und sprach zu ihm: Folge mir nach! Und er stand auf und folgte ihm nach.

15 Und es begab sich, dass er zu Tisch saß in seinem Hause, da setzten sich viele Zöllner und Sünder zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern; denn es waren viele, die ihm nachfolgten.
16 Und als die Schriftgelehrten unter den Pharisäern sahen, dass er mit den Sündern und Zöllnern aß, sprachen sie zu seinen Jüngern: Isst er mit den Zöllnern und Sündern?
17 Als das Jesus hörte, sprach er zu ihnen: Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder  zu rufen und nicht die Gerechten.

(I)  Jesus als Arzt: Wunderheiler oder Heiland?

Beginnen wir von hinten (V. 17). Nachdem Jesus sagt „Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken“ müsste doch eigentlich die Fortsetzung lauten: „Ich bin gekommen, die Kranken  zu rufen und nicht die Gesunden. Stattdessen werden die Sünder in die Nachfolge gerufen. Natürlich war das zu Jesu Zeiten nahezu identisch: Ein Kranker wurde als Sünder angesehen, sonst hätte Gott ihn ja nicht mit Krankheit geschlagen. Trotzdem geht die „Gleichung“ in V. 17 nicht auf, denn die vielen Zöllner und Sünder waren ja nicht alle physisch krank. Im Gegenteil: sie lagen fröhlich mit Jesus zu Tisch. Markus sagt also nicht: diese Menschen sind alle krank, deshalb sind sie Sünder, sondern: diese Menschen sind Sünder und deshalb (im metaphorischen Sinne) krank. Jesus als Arzt – das ist hier nicht wörtlich gemeint, sondern im übertragenen Sinn. Jesus ruft die Menschen in die Nachfolge (durch seine Lehre) und dadurch genesen sie. Sie waren „blind“ und „taub“, jetzt werden ihre Augen und Ohren geöffnet. Jesus wird hier nicht als „Dr. med.“ vorgestellt, oder als Wunderheiler, sondern als Heiland, der die Sünder in seine Nachfolge ruft und so zurechtbringt.

Genau das geschieht in V. 13-14. Jesus lehrt, und seine Lehre „ruft“ Levi in die Nachfolge. Mit genau denselben Worten werden die ersten Jünger am See in die Nachfolge gerufen
(Mk.1, 16-20):

Als er aber am Galiläischen Meer entlangging, sah er Simon und Andreas, Simons Bruder, wie sie ihre Netze ins Meer warfen; denn sie waren Fischer. Und Jesus sprach zu ihnen: Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! Sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach. Und als er ein wenig weiterging, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, wie sie im Boot die Netze flickten. Und alsbald rief er sie und sie ließen ihren Vater Zebedäus im Boot mit den Tagelöhnern und folgten ihm nach.

Eine Berufungsgeschichte mit negativem Ausgang finden wir dagegen in Mk. 10, 21-22:

… Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach! Er aber wurde unmutig über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter.

Im Gegensatz dazu nimmt Levi den Ruf Jesu an.

Nach diesem exemplarischen Bericht eines Rufes in die Nachfolge, fügt Markus einen summarischen Bericht an: „…denn es waren viele (= Zöllner und Sünder), die ihm nachfolgten.“ (V. 15).

 

(II) Krankheit als Bild für Gottferne erscheint im ganzen Alten Testament

Jesus als „Arzt“, der gekommen ist, die Sünder in die Nachfolge zu rufen: Das ist hier die Botschaft von Markus. Es geht nicht um die körperliche Krankheit, auch nicht um die seelische, sondern um die geistliche. Diese Betrachtungsweise finden wir im Alten Testament an vielen Stellen. Hier ist es Gott selber, der heil macht und die Menschen zurechtbringt:  „Ich bin der Herr, dein Arzt“ (2. Mose 15,26). Immer wieder tauchen dieselben Bilder auf: Blinde, Taube, Stumme, Aussätzige, Gefangene und Tote. Immer geht es um geistliche Blindheit, um geistliche Taubheit, um geistlichen Tod. So z.B. in Jesaja 6, 8-10:

Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!
Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet's nicht; sehet und merket's nicht! Verstocke das Herz dieses Volks und lass ihre Ohren taub sein und ihre Augen blind, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen (!).

Gott beklagt sich über sein Volk:  sein Herz ist verstockt. Es hat den Bund, den Gott mit ihm am Sinai geschlossen hat, aufgekündigt. Es ist blind und taub. Es hat Augen, aber sieht nicht; es hat Ohren, aber hört nicht. Es ist geistlich tot.

„Verstocke das Herz dieses Volkes“: Hebräische Satzwendung. Sie meint nicht, dass Gott aktiv das Volk mit Blindheit schlägt (so dass es für seinen Abfall gar nichts kann). Gemeint ist:

Predige diesem Volk, so dass sichtbar wird: sein Herz ist verstockt.
= durch die Predigt des Propheten wird der Mensch in eine Entscheidung gestellt. Und weil es dann gegenüber Gottes Botschaft verschlossen ist, wird es als blind und taub und tot benannt.

Aber dann, am Ende des Jesajabuches, leuchtet eine große Hoffnung auf.  Gott, der große Herr und Hirte und Arzt seines Volkes, wird einen Heiland schicken, einen Messias:

Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.  Jesaja 29,17-19

Eine messianische Zeit wird vorhergesagt. Gott selbst wird kommen in seinem Messias. Dann werden die Blinden wieder sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Toten erwachen zu neuem Leben. Die Zeit der geistlichen Dürre wird abgelöst von einer Zeit, in der das Volk die Hand Gottes neu ergreift. Dann wird die Freude groß sein im Land.

Mit mir, sagt Jesus in der Synagoge in Nazareth, mit mir hat sich dieses Wort der Schrift erfüllt
(Lk.16-20).

 

(III) Sind wir heute vielleicht ebenfalls blind, taub, lahm und stumm – geistlich tot?

Auch wir werden durch die Lehre Jesu herausgefordert.  Man kann seine Predigt nicht neutral hören. Sie erfordert eine Entscheidung von uns. Man kann betrübt weggehen wie der reiche Jüngling in Mk. 10. Man kann sich über den Anspruch Jesu empören wie die Menschen in Jesu Vaterstadt Nazareth (Mk. 6, 3 „…und sie ärgerten sich an ihm“). Man kann eine Entscheidung vertagen (Ag. 17, 32: „Wir wollen dich darüber ein andermal weiterhören“).  Markus meint: Wer sich gegen Jesus und seine Botschaft entscheidet, bleibt „verstockt“, „blind“ und „taub“. Wer Jesus nachfolgt wird sehend, erwacht zu neuem geistlichen Leben. – Wie lautet unsere Antwort?

Unsere Kirchenlieder übrigens haben die Metaphorik von geistlicher Blindheit und Taubheit in vielfältiger Weise aufgenommen:

 „Jesus, wir sehen auf dich, deine Liebe sie will uns verändern“
„Jesus, wir hören auf dich, du hast Worte ewigen Lebens“ (Peter Strauch)

„Er bricht ins Reich der Sünde ein, setzt die Gefangnen frei“
„Ihr Tauben hört ihn, Stumme singt, ihr seid zum Lob befreit/seht, Blinde, den, der Heil euch bringt, ihr Lahmen springt vor Freud.“ (Charles Wesley)

„Du legst uns deine Worte und deine Taten vor. / Herr öffne unsere Herzen und unser Ohr.“
(Kurt Rommel)

„Gott gab uns Ohren, damit wir hören. / Er gab uns Worte, dass wir verstehn.“„Gott gab uns Hände, damit wir Handeln (vgl. Mk. 3,1!). / Er er gab uns Füße, dass wir fest stehn.“
(Eckart Bücken)