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Speisung der Fünftausend  (Markus 6, 32-44)

32 Und sie fuhren in einem Boot an eine einsame Stätte für sich allein. 33 Und man sah sie wegfahren, und viele merkten es und liefen aus allen Städten zu Fuß dorthin zusammen und kamen ihnen zuvor. 34 Und Jesus stieg aus und sah die große Menge; und sie jammerten ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er fing eine lange Predigt an. 35 Als nun der Tag fast vorüber war, traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Es ist öde hier und der Tag ist fast vorüber; 36 lass sie gehen, damit sie in die Höfe und Dörfer ringsum gehen und sich Brot kaufen. 37 Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen! Und sie sprachen zu ihm: Sollen wir denn hingehen und für zweihundert Silbergroschen Brot kaufen und ihnen zu essen geben? 38 Er aber sprach zu ihnen: Wie viel Brote habt ihr? Geht hin und seht! Und als sie es erkundet hatten, sprachen sie: Fünf und zwei Fische. 39 Und er gebot ihnen, dass sie sich alle lagerten, tischweise, auf das grüne Gras. 40 Und sie setzten sich, in Gruppen zu hundert und zu fünfzig. 41 Und er nahm die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel, dankte und brach die Brote und gab sie den Jüngern, damit sie unter ihnen austeilten, und die zwei Fische teilte er unter sie alle. 42 Und sie aßen alle und wurden satt. 43 Und sie sammelten die Brocken auf, zwölf Körbe voll, und von den Fischen. 44 Und die, die Brote gegessen hatten, waren fünftausend Mann.

Bei Markus geht es nie um reales Essen, um reales Brot. Es geht immer um geistliche Nahrung. Das ist auch in dieser Episode so, der Speisung der Fünftausend. Mit dieser Erzählung und der nachfolgenden Zusammenfassung beendet Markus sein Missionskapitel, das ausgehend von der Berufung der Zwölf auf dem Berg (Mk 4,13ff.) bis zur Ankunft in Genezareth (Mk 6,53ff.) viele Aspekte der Mission in heimischen, jüdischen Landen beleuchtet.

Auf der realen Erzählebene ist die Speisung der Fünftausend selbst ohne das eigentliche Vermehrungswunder nicht vorstellbar. Da kapitulieren wir schon vor der schieren Quantität. Man müsste fast alle Bewohner Galiläas zusammenbringen, um auf diese Größenordnung zu kommen, zumal, wenn man von Männern ausgeht und Frauen und Kinder noch dazuzählt (V. 44, vgl. Mt 14,21). Und nun sollen diese Massen, nach dem Wunsch der Jünger „fortgehen zu den Höfen und Dörfern ringsum“, um sich Essen zu kaufen. Weder hätte es genügend Höfe und Dörfer gegeben, noch wäre eine solche Menge an Lebensmitteln bereitzustellen gewesen. Genauso unrealistisch wie seltsam mutet Jesu Aufforderung an: Gebt ihr ihnen zu essen! Die Jünger kommen ja gerade deshalb zu Jesus, weil sie sich dazu nicht in der Lage sehen. Umgekehrt erscheint die Essensmenge, die vorhanden war, selbst nur für die Jünger, viel zu klein. Nach Mk 6,31 waren Jesus und seine Jünger gerade deshalb an einen einsamen Ort gefahren, um endlich in Ruhe zum Essen zu kommen. Und da hatten sie nicht mehr dabei als fünf Brotfladen und zwei Fische? Weiter: Warum lässt Jesus diese übergroße Menge in Gruppen zu hundert und fünfzig lagern (V. 40)? Das erschließt sich nicht aus der beschriebenen Brotvermehrung, wo eher daran zu denken wäre, zwölf lange Schlangen zu bilden, um von den Jüngern versorgt zu werden. Und schließlich: Warum die Überproduktion? Wer soll diese zwölf vollen Körbe (wörtlich: Tragekörbe) aus der Einöde wegschleppen? Und wozu? Und warum hatten die Menschen nur fünf Brote aber mindestens zwölf Körbe dabei? Wir sehen wieder einmal, dass wir uns mit einer wörtlichen Auslegung in Sackgassen manövrieren.

Ganz anders geht es uns, wenn wir die Speisung wieder allegorisch, d. h. im biblischen Zusammenhang: geistlich verstehen. Jetzt bekommen die Dinge ihren Platz. Markus schöpft aus einem reichen Fundus alttestamentlicher Bilder und Vorstellungen. Wieder geht es um die Strukturelemente Herleitung und Vergegenwärtigung. Hergeleitet wird die Speisung aus dem Alten Testament. Vergegenwärtigt wird sie (unter Umgehung der scheinbar erzählten Zeit = Zeit des irdischen Jesus) in der Zeit des Markus. Doch nun der Reihe nach.

Die Grundidee für diese Erzählung stammt aus dem Buch Könige, wo über den Propheten Elisa allerlei Wundersames berichtet wird. Dazu gehört auch die folgende Brotvermehrung (2Kön 4,42-44):
Es kam aber ein Mann von Baal-Schalischa und brachte dem Mann Gottes Erstlingsbrot, nämlich zwanzig Gerstenbrote, und neues Getreide in seinem Kleid. Er aber sprach: Gib's den Leuten, dass sie essen! Sein Diener sprach: Wie soll ich davon hundert Mann geben? Er sprach: Gib den Leuten, dass sie essen! Denn so spricht der HERR: Man wird essen und es wird noch übrig bleiben. Und er legte es ihnen vor, dass sie aßen; und es blieb noch übrig nach dem Wort des HERRN.

Markus nimmt nun diese Form als Vorbild und gestaltet daraus seine eigene Lehrerzählung. „Die Jünger“, das sind, wie der Zusammenhang deutlich macht, immer noch „die Zwölf“, die Jesus in Mk 3,13ff. berufen, anschließend gelehrt und ausgebildet und in Mk 6,7 ausgesendet hat. Wie wir sahen, meint Markus damit die Missionare im Dienst des Auferstandenen, die Christus aussendet (Geht hin und macht zu Jüngern alle Völker, Mt 28,19). Christus überträgt also sein eigenes Apostelamt (Heb 3,1) an die von ihm auserwählten Jünger, damit sie ihrerseits wieder Jünger berufen und lehren. Dieser Gedanke steckt in einer merkwürdigen Formulierung, die in fast allen Übersetzungen untergeht. Wörtlich heißte es nämlich: Und sie ließen sich nieder, Gartenbeet für Gartenbeet, (V. 40). Das Bild war im Judentum wohlbekannt, vgl. diese bei Strack-Billerbeck II, S. 13, zitierte Formulierung: „Wenn Gelehrtenschüler dasitzen als lauter Gartenbeete … dann fahre ich zu ihnen hernieder.“ Wir haben also die Menge der Christen vor uns, Gartenbeet für Gartenbeet, die von Christus, über die Apostel, ihre geistliche Nahrung (Ich bin das Brot des Lebens, Joh 6,35) erhalten.

Was ist das für ein Brot, das Christus den Seinen austeilt? Oder genauer: warum genau fünf Brote? Die Antwort hat Markus dem belesenen Hörer bereits in Mk 2,26 gegeben, wo Jesus Bezug nimmt auf die zwölf(!) heiligen Schaubrote, die David seinen Leuten aus der Stiftshütte zu essen gab (vgl. 3,4). Dazu heißt es in 1Sam 21, dass David auf der Flucht für seine Leute Essen suchen geht und zum diensttuenden Priester der Stiftshütte (= Vorläufer des Tempels) kommt. Ihn bittet er mit den Worten: Hast du nun etwas bei der Hand, etwa fünf Brote, oder was sonst vorhanden ist, das gib mir in meine Hand (1Sam 21,4). Darauf antwortet der Priester: Ich habe kein gewöhnliches Brot bei der Hand, sondern nur heiliges Brot (V. 5) – also die Schaubrote der Stiftshütte. Schon hier, im Alten Testament, ist eine allegorisierende Tendenz unverkennbar: David fragt nach etwas zu essen („etwa fünf Brote“) und erhält ganz unvermutet die zwölf Schaubrote, die Gottes Bund mit Israel repräsentieren. Sein Anliegen wird dadurch sichtbar geheiligt, er selber zum Träger eines neuen Bundes mit Gott (vgl. Ps 89,4: Ich habe einen Bund geschlossen mit David, meinem Knechte …).

Markus überträgt den Vorgang auf Christus (den Spross Davids, Jer 23,5; Röm 1,3). Wie David fragt Jesus unverfänglich: „Wieviele Brote habt ihr denn?“ Und aus den fünf Broten werden zwölf Körbe Brot, der neue Bund in Christus. Das ist das, was die „Gelehrtenschüler“ „Gartenbeet für Gartenbeet“ als Lehre vorgesetzt bekommen – eine Lehre, die satt macht, weil Jahwe in Christus „herniedergefahren“ ist (vgl. das Zitat von Strack-Billerbeck oben).

Anmerkung:
Zum Bild von den Schaubroten passt die Formulierung, dass Jesus die Menschen sich „tischweise“ lagern lässt (wörtliche Übersetzung). Es gibt ja gar keine Tische! Aber jeder Jude verbindet die Schaubrote mit ihrem dazugehörigen Schaubrottisch, um den sich das Volk lagert.

Was aber ist mit den zwei Fischen? Auch darauf hat Markus seine Leser/Hörer schon vorbereitet. Es sind nichts anderes gemeint als die paarweise ausgesandten Missionare, selber durch ihre Bekehrung („Buße“) dem Chaos des Meeres abgewonnen (vgl. Jer 16,16!) Nun gelangen sie, von Christus gesegnet (Mk 6,41), zusammen mit dem „Wort“ (= dem Brot) zu den Menschen. Alles hat mit der Aussendung des ersten Missionspaares begonnen. Nun können Markus und seine Gemeinde auf viele „Gartenbeete“ schauen, die dazugewonnen wurden. Alle hat das Wort satt gemacht, es ist „heiliges“ Wort/Brot, es wird in zwölf Körben aufbewahrt für das ganze zwölfstämmige Volk Israel und auch Missionare/Fische sind noch da, die Botschaft weiterzutragen (V. 43).

Das griechische Wort für „Tragekorb“, das Markus hier gebraucht („cophinus“) ist nach dem griechischen Dichter Juvenal ein Lehnwort aus dem Semitischen und stand für die Tragekörbe der Juden, in denen sie ihre Sabbatspeisen warm hielten. Auch die Schaubrote wurden jeden Sabbat neu gebacken. Ein weiterer Hinweis auf die Verbindung zwischen den zwölf Körben der Brotvermehrung und den zwölf Schaubroten der Stiftshütte.

Es ist eines Hinweises wert, dass die Jünger das Brot austeilen, Jesus selber aber die Fische, austeilt (… brach die Brote und gab sie den Jüngern, damit sie sie austeilen, und die zwei Fische teilte er unter alle, V. 41). Damit wird ausgedrückt, dass die Missionare das Wort verkünden, Christus aber die Missionare beruft.

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass Markus ein großer Schriftsteller ist, dann wäre kaum eine Erzählung so geeignet wie die Speisung der Fünftausend. Denn über die beschriebenen Herleitungen hinaus hat Markus in wundersamer Weise weitere zentrale Themen in seine Geschichte verwoben. Sie scheint so einfach und kann von jedem Kind nacherzählt werden – und ist doch so komplex, so reich an Anspielungen und Herleitungen biblischer Wahrheiten.

Eine dieser Anspielungen bezieht sich auf den Bundesschluss Gottes mit seinem Volk am Sinai. Denn die Idee, das Volk zu tausend, zu hundert, zu fünfzig und zu zehn (2Mo 18,21) lagern zu lassen, stammt aus dem guten Rat Jitros, des Schwiegervaters von Mose, der durch den Vorschlag der Teilung und Delegation das gute Regieren des Volkes erst möglich macht. Durch diese Anspielung (vielleicht auch ein guter Rat des Markus an seine Christen?) verknüpft Markus Christus mit Mose (vgl. Mk 9,4) und damit mit dem Überbringer des Willens Gottes an sein Volk. Markus deutet an: In Christus kommt ein neuer Mose, ein neues Gesetz (Joh 13,4), ein neuer Hirte des Volkes.

Das Thema „Hirte“ ist für die Brotvermehrung sehr bedeutsam. In V. 34 heißt es: Die Menge jammerte ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Auch dies ein Zitat, das Jesus mit Mose in Verbindung bringt. Dieser macht sich Sorgen um seine Nachfolge und erbittet von Gott einen gesegneten Anführer, damit die Gemeinde Jahwes nicht sei wie die Schafe ohne Hirten (4Mo 27,17). Für Markus ist Christus dieser gute Hirte für sein Volk. Und weil er als Messias der verlängerte Arm Gottes ist, sieht Markus Gott selber in ihm am Werk. Wenn es in Ps 23 heißt Der Herr ist mein Hirte (Ps 23,1) und er weidet mich auf grüner Aue (V. 2), oder in Jes 40,11 Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte, dann ist genau das damit gemeint, wenn Markus sagt, dass Jesus die Menschen auf grünem Gras (V. 39) lagern lässt und ihnen ein neuer Anführer und neuer Hirte sein will.

Zum Thema Vergegenwärtigung, also zur Übertragung in die Zeit des Markus, ist schon einiges gesagt. Seine Missionare sind paarweise unterwegs (zwei Fische). Sie werden von Christus selber berufen und zugeteilt (die zwei Fische teilte er unter alle, V. 41). Das Wort („Brot“) der Missionare ist heiliges Wort, weil Christus es segnet (V. 41). Es ist das Wort für ganz Israel („zwölf Körbe“) und zwar Worte des Bundes mit Gott („Schaubrote“). Wer ist dieser Christus für die markinische Gemeinde? Er ist mehr als die Propheten des alten Bundes, vertreten durch Elisa, dessen Brotvermehrung (2Kön 4,42-44) hier übertroffen wird. Er ist mehr als David, weil er der Empfänger der „neuen“ Schaubrote ist und sie seine Jünger als neuen Bund an das Volk austeilen lässt. Und er ist mehr als Mose, dessen Volk am Sinai lagerte (Gartenbeet für Gartenbeet, s. o.), um die Tora zu empfangen. Hier lässt Christus sein Volk lagern (in Tischgemeinschaften, V. 39), um seine „neuen“ Gebote zu erhalten, um zu einem erneuerten Volk für Jahwe zu werden.

Anmerkung:
Christus, der sein hungerndes Volk in der Einöde (vgl. V. 35 u. V. 32) speist, erinnert natürlich auch an die Speisung der Israeliten durch Jahwe in der Wüste, vgl. 2Mo 16,11ff.

Die Aufforderung, sich tischweise zu lagern (V. 39) unterstreicht den Abendmahlscharakter. Wenn man nun bedenkt, dass die markinische Gemeinde wöchentlich am Sonntag Abendmahl miteinander gefeiert hat, dann führt die Speisung der Fünftausend in die größtmögliche Vergegenwärtigung. Denn ist es nicht genau das, was im Abendmahl geschieht: Der Herr dankt für das Brot, bricht es und teilt es an seine Jünger aus. Es ist heiliges Brot, jetzt aber, über den Schaubrote-Vergleich hinaus, weil es für den gebrochenen Leib Christi steht, weil es Christus selber ist, der „ausgeteilt“ wird, weil es Christus ist, der im Brot vergegenwärtigt wird: Jesus nahm das Brot, dankte und brach‘s und gab’s ihnen und sprach: das ist mein Leib (Mk 14,22). So wurde die markinische Gemeinde (und im Nachgang alle Christen bis heute) durch das Abendmahl in die wundersame Brotvermehrung mit all seinen Facetten der Herleitung und Vergegenwärtigung einbezogen.

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