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Markus 5, 1-12    Die Heilung des Besessenen von Gerasa

Und sie kamen ans andre Ufer des Sees in die Gegend der Gerasener. Und als er aus dem Boot
trat, lief ihm alsbald von den Gräbern her ein Mensch entgegen mit einem unreinen Geist, der hatte seine Wohnung in den Grabhöhlen. Und niemand konnte ihn mehr binden, auch nicht mit Ketten; denn er war oft mit Fesseln und Ketten gebunden gewesen und hatte die Ketten zerrissen und die Fesseln zerrieben; und niemand konnte ihn bändigen. Und er war allezeit, Tag und Nacht, in den Grabhöhlen und auf den Bergen, schrie und schlug sich mit Steinen.

Als er aber Jesus sah von ferne, lief er hinzu und fiel vor ihm nieder und schrie laut: Was willst du von mir, Jesus, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht! Denn er hatte zu ihm gesagt: Fahre aus, du unreiner Geist, von dem Menschen!

Und er fragte ihn: Wie heißt du? Und er sprach: Legion heiße ich; denn wir sind viele. Und er bat Jesus sehr, dass er sie nicht aus der Gegend vertreibe. Es war aber dort an den Bergen eine große Herde Säue auf der Weide. Und die unreinen Geister baten ihn und sprachen: Lass uns in die Säue fahren! Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die unreinen Geister aus und fuhren in die Säue, und die Herde stürmte den Abhang hinunter in den See, etwa zweitausend, und sie ersoffen im See.

Und die Sauhirten flohen und verkündeten das in der Stadt und auf dem Lande. Und die Leute gingen hinaus, um zu sehen, was geschehen war, und kamen zu Jesus und sahen den Besessenen, wie er dasaß, bekleidet und vernünftig, den, der die Legion unreiner Geister gehabt hatte; und sie fürchteten sich. Und die es gesehen hatten, erzählten ihnen, was mit dem Besessenen geschehen war und das von den Säuen. Und sie fingen an und baten Jesus, aus ihrem Gebiet fortzugehen.

Und als er in das Boot trat, bat ihn der Besessene, dass er bei ihm bleiben dürfe. Aber er ließ es ihm nicht zu, sondern sprach zu ihm: Geh hin in dein Haus zu den Deinen und verkünde ihnen, welch große Wohltat dir der Herr getan und wie er sich deiner erbarmt hat. Und er ging hin und fing an, in den Zehn Städten auszurufen, welch große Wohltat ihm Jesus getan hatte; und jedermann verwunderte sich.


Markus 5, 1-20


Diese Geschichte bereitet uns auf der (wörtlichen) Erzählebene viele Schwierigkeiten. Die wichtigsten:

(1) Dämonen kommen in unserer Lebenswirklichkeit nicht mehr vor. Wir sagen höchstens noch: „Der ist besessen von seiner Arbeit.“ Oder „Als er Geld aus der Kasse nahm, da hat ihn wohl der Teufel geritten.“ Das sind blasse Abbilder eines Dämonenglaubens früherer Zeiten. Im alten Orient galten Dämonen als Teil der Weltordnung. Sie konnten von Menschen Besitz nehmen und ihnen ihren Willen aufzwingen. Im Judentum konnte man auch fremde Götter als böse Geister verstehen. Wer sie anbetete, gewann durch sie vielleicht irdische Macht, war aber in seiner Ablehnung Jahwes dem Tod geweiht. Bis ins Mittelalter hat sich der Dämonenglaube gehalten. In der Hexenverfolgung fand er sein letztes Aufbäumen. Wenn wir heute also nicht mehr an die Wirklichkeit von Dämonen glauben: Wie können wir dann die Heilung des Besessenen von Gerasa verstehen?

(2) Es gibt in und um Gerasa kein Meer und keinen See. Die Geschichte scheint an den See Genezaret zu denken, der aber ist 50 Kilometer entfernt. In der Parallelversion bei Matthäus wird als Ort Gadara genannt, etwa 10 Kilometer vom See entfernt. Selbst hier erscheint eine Herdenflucht von 2000 Schweinen  über diese Entfernung nicht vorstellbar, zumal ein tiefes Tal überwunden werden müsste.

(3) Dazu kommt, dass wir zwar von einer Schweineherde sprechen, das Schwein jedoch nicht wie ein Schaf oder eine Kuh ein Herdentier ist, das einem Leittier folgt. Eine in Panik geratene Schweineherde würde sich zerstreuen und sich nicht gemeinsam wie die Lemminge in den Tod stürzen.

(4) Es wird berichtet, dass die Schweine im Meer „ersoffen“. Nun ist es aber so, dass Schweine schwimmen können. Sie ersaufen nicht, wenn sie ins Wasser gedrückt werden sollten, sondern sie würden an anderer Stelle an Land schwimmen.

(5) Eine Schweineherde dieser Größenordnung (2000 Tiere) ist für die damalige Zeit nicht vorstellbar. Bauern mögen 10-20 Tiere besessen haben, ein „Großbetrieb“, falls es ihn damals schon in irgendeiner Form gegeben haben sollte, vielleicht 200-300 Tiere. Heutige Industriemastbetriebe haben eine Größenordnung von 1000-2000 Tieren. Die damit einhergehenden Logistikprobleme wären zur Zeit Jesu unlösbar gewesen.

(6) Aber ob nun tatsächlich 2000 Schweine oder 200: Man hätte Jesus unmittelbar für ihren Tod verantwortlich machen können. Ist es denkbar, dass Jesus einerseits die wirtschaftliche Existenz vieler Menschen in Gerasa zunichtemacht und man ihn andererseits dafür nicht zur Rechenschaft zieht? Aber die Menschen, die Jesus bitten (!), das Land zu verlassen, thematisieren den folgenschweren Verlust mit keinem Wort.

(7) Die Dämonen bitten Jesus, dass er sie nicht “außer Landes”  (Luther übersetzt  „aus der Gegend“) verbanne. Das ist ungewöhnlich. Es gibt kein anderes Beispiel dafür, dass Dämonen an Ländergrenzen gebunden wären. Und: Jesus hat ihnen die „Ausweisung“ aus dem Land gar nicht angedroht. Auch bei anderen Dämonenaustreibungen spielt es keine Rolle, wo der ausgetriebene Dämon verbleibt. Was soll also diese Bitte?

(8) Wie kommt es überhaupt zu dieser Begegnung mit dem Besessenen? Jesus begegnet ihm nicht zufällig. Am Tag zuvor weist er seine Jünger an, ihn quer über den See in das heidnische Gebiet der Dekapolis zu bringen. In der Nacht kommt ein schwerer Sturm auf, den Jesus beschwört und stillt (Mk 4,35-41). Am Morgen dann die Heilung des Besessenen und dann (auf Bitten der Anwohner) die sofortige Rückkehr nach Kapernaum – also zurück über den See. Das ist ein großer Aufwand für diese Einzelaktion. Was will Jesus damit bezwecken? Wollte er im heidnischen Land das Reich Gottes verkünden? Wohl kaum. Jesus hat sich zu Lebzeiten scharf von einer Heidenmission abgegrenzt (Mk 7,24: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ – Mt 10,5: „Geht nicht zu den Heiden und betretet keine Stadt der Samariter.“) Warum also diese „Spritztour“ nach Gerasa?

Wieder einmal haben wir eine Erzählung vor uns, die wörtlich verstanden mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. Aber vielleicht ist es auch hier wieder so, dass der Evangelist beim Leser oder beim Zuhörer ein Wissen voraussetzt, das die Geschichte in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt.

Nehmen wir einmal an, Markus beschriebe kein Ereignis aus dem Leben des irdischen Jesus, sondern eine Situation seiner Zeit, also ca. 50 Jahre später. Das Christentum hat sich über Samarien, Syrien, Kleinasien, Griechenland, Italien bis nach Spanien ausgebreitet. In Judäa, dem Stammland des Christentums, tobt der römisch-jüdische Krieg. Östlich davon, jenseits des Jordans, liegt die Dekapolis, in der die Geschichte spielt.

Die Dekapolis (= „Zehnstädtegebiet“) bezeichnet eine Anzahl von Städten im Ostjordanland, die seit 63 v. Chr. der Herrschaft Judäas entzogen worden war und dem römischen Stadthalter von Syrien unterstand. Die Städte waren hellenistisch geprägt, auch in Kultur und Religion. Es gab jedoch einen nicht geringen Anteil an jüdischer Bevölkerung, die sich zum Teil assimiliert hatte und ebenfalls den lokalen Gottheiten opferte. Im römisch-jüdischen Krieg gab es eine jüdische Fraktion, die mit den Juden im Stammland Judäa sympathisierte und von einer Wiedereingliederung der Dekapolis in das judäische Königreich träumte. Andere Juden stellten sich auf die Seite der Römer und kämpften sogar gegen ihre jüdischen Brüder. In manchen Orten wurden alle Juden während des Krieges aus den Städten verwiesen, weil man an ihrer Loyalität zweifelte. Sie befanden sich in bedrohlicher Lage zwischen den Fronten.

In dieser politischen Situation konnte das junge Christentum in der Dekapolis zunächst nicht Fuß fassen. Und genau das wird in der Heilung des Besessenen von Gerasa in bildhafter Form ausgedrückt.

Die frühchristlichen Missionare, die auch in der Dekapolis vom Reich Gottes predigen wollen, sind eine verängstigte, verunsicherte Schar (in der Geschichte stellvertretend dargestellt von den ersten Jüngern). Klar, sie haben Christus „an Bord“, aber von seiner Macht ist zunächst nichts zu spüren (Mk 4,35-41 – „Jesus schläft“). Erst als sie ihm anrufen, beruhigt sich ihr Gemüt. Ihnen wird deutlich: Christus ist stärker als Wind und Meer, stärker als ihre Angst. Sie haben es schon vorher gewusst, aber Glaube muss immer neu “geweckt” werden. In der Dekapolis kommt es zur Begegnung mit dem Besessenen. Der Glaube der Jünger wirkt: Nicht sie maßen sich an, den Besessenen zu heilen, jetzt vertrauen sie von vorneherein auf Christus. Es sind nicht die Christen, die Menschen befreien von Unglaube und Gebundenheit. Es ist Christus selber, der frei macht. Deshalb kommen die Jünger in der Geschichte auch nicht als Akteure vor.

Was ist das nun für einer, der so besessen ist, dass ihn keine Macht der Welt befreien kann       (Mk 5,4)? Der Besessene steht stellvertretend für die oben erwähnten Juden in der Dekapolis, die den Glauben ihrer Väter aufgegeben haben und nun „auf den Bergen“ (Mk 5,5) fremde Götter anbeten. Sie stehen nicht nur äußerlich zwischen den Fronten, sondern auch spirituell. Markus zitiert hier eine Stelle bei Jesaja, in der Gott über sein Volk klagt, das ihn verlassen hat und anderen Göttern anhängt. Er beschreibt sie als Aussätzige: „Sie sitzen in Gräbern und bleiben über Nacht in Höhlen; sie essen Schweinefleisch… und sprechen: Bleib weg und rühre mich nicht an, sonst bist du (den Götzen) geweiht… Auf den Bergen verbrennen sie Weihrauch…“ (Jes 65,1-11).

Nur unschwer erkennen wir in dieser Beschreibung den Besessenen von Gerasa. Er ist heimatlos und unrein. Seine Besessenheit besteht darin, dass er Jahwe verleugnet und andere Götter  (Götzen) in ihm Raum gewonnen haben. Seine Besessenheit besteht darin, gottlos zu sein. Dafür haben andere Mächte Gewalt über ihn bekommen. Er war nicht zu bändigen (Mk 5,4): Diese Erfahrung kann man auch heute mit Menschen machen, die sich politisch oder religiös sektiererisch verhalten. Sie sind schwer von ihren Ideologien abzubringen.

Wie gesagt: der Besessene von Gerasa steht stellvertretend für die assimilierten Juden in der Dekapolis, ebenso wie die Jünger für frühchristliche Missionare stehen. Im Mittelpunkt aber sieht Markus Jesus. Er steht für den auferstandenen Christus, der die Missionare begleitet, der die Wogen glättet (Mk 4,39), der sie an die Kraft ihres Glaubens erinnert. Diese Kraft besteht darin, nichts selber machen zu wollen, sondern Christus machen zu lassen.

Durch die Begegnung mit Christus gewinnt der Besessene seinen Glauben wieder. Er wird wieder ruhig und vernünftig (Mk 5,15). Jetzt muss er nicht mehr in Grabhöhlen hausen. Er wird nun seinerseits zu einem Missionar und verkündigt seinen neuen Glauben in seinem familiären Umfeld und darüber hinaus (Mk 5,20). So erreicht der Christusglaube über die in der Dekapolis lebenden Juden langsam auch die hellenistisch geprägten Städte.

Warum erzählt Markus diese Geschichte? Er macht damit den frühchristlichen Missionaren Mut, die sich auf Christi Gebot hin (Mk 4,35) zu neuen Ufern aufmachen, die sich in heidnische Gebiete wagen. Seine Botschaft: auch wenn es dabei stürmisch wird, Christus ist bei euch. Wenn euer Glaube sinkt, ruft ihn an, er ist der Herr über Sturm und Meer. Er kann euren Glauben stärken, euer Schiff (eure Mission) bewahren und euch sicher führen. Und auch wenn eure Mission scheinbar keinen Erfolg hat, wenn ihr von den Heiden abgelehnt und zurückgewiesen werdet (Mk 5,17), Christus bleibt der Sieger über Götzendienst und Glaubensabfall. Er kann, wie stellvertretend am Besessenen von Gerasa gezeigt, Menschen aus den Mächten religiöser Verirrungen befreien und sie wieder „vernünftig“ machen (Mk 5,15). Das ist der eigentliche Kern der Geschichte.

Doch nun hat Markus – und das ist hohe Erzählkunst – diese Geschichte mit einer zweiten verwoben. Während es in der ersten um Erfolge und Misserfolge der Heidenmission am Beispiel der Dekapolis geht, thematisiert Markus in der zweiten das Verhältnis der Christen zum römischen Reich. Es ist eine Stellungnahme inmitten des römisch-jüdischen Krieges und im Angesicht einer Christenverfolgung in Rom und überall dort, wo Christen die göttliche Verehrung des Kaisers ablehnen und mit dem Tod rechnen müssen. Die Frage lautet: Wer ist stärker – die Götter der Römer oder Christus und sein Gott Jahwe?

Nach der eigentlichen Dämonenaustreibung, die mit Mk 15,8 endet, verwickelt Jesus die Geister in ein Gespräch. Er fragt sie nach ihrem Namen und lässt sich auf einen Handel ein. Er kommt ihnen entgegen (sie dürfen im Land bleiben, V. 10) und er erlaubt ihnen, sich mit der Schweineherde neue Wirte zu suchen, die sie dann prompt ins Verderben stürzen. Dieser Dialog ist zunächst befremdlich. Es gibt dazu bei allen berichteten Dämonenaustreibungen durch Jesus keine Parallele.

„Und er fragt ihn: Was ist dein Name? Und er sagt ihm: Legion ist mein Name, denn viele sind wir“ (Mk 5,9). Dies ist der Schlüsselsatz zur zweiten Erzählebene. Legion – das ist eine römische Truppeneinheit. Sie besteht in der Regel aus etwa 6000 Soldaten. Bei großen Herausforderungen werden mehrere Legionen zusammengelegt, aber auch das Gegenteil ist der Fall: Legionen können für bestimmte Aufgaben auch geteilt werden. Nun: eine solche Teillegion (Fachbegriff „Vexillation“) war in Gerasa stationiert! Es handelte sich um die Legio X. Fretensis, der in Judäa im römisch-jüdischen Krieg eine Schlüsselrolle zufiel. Vexillationen („Abordnungen“) dieser Legion waren auch in Jerusalem und in anderen Städten stationiert, so dass eine Größenordnung von 2000 Soldaten für Gerasa durchaus plausibel erscheint (auch wenn es darüber keine Angaben gibt). Und es kommt noch besser: Zu den Abzeichen der Legio X. Fretensis gehörte ein Eber. Hier schlägt Markus die Brücke zu der 2000 Exemplare starken Schweineherde. Es ist also die Legio X., in die die heidnischen Geister fahren und die von ihnen vernichtet wird.

    Anmerkung: Im Hinblick auf die Vernichtung von 2000 römischen Soldaten gäbe es eine weitere Variante, die eine Rolle gespielt haben könnte. Sie ist bei dem jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus zu finden. Danach war im Jahr 66 (etwa die Zeit der Abfassung des Markusevangeliums) eine römische Armee unter dem Kommando des Cestius Gallus in einen jüdischen Hinterhalt geraten, wobei 2000 Soldaten getötet wurden. Teil dieser Armee war die Legio X. Fretensis! Dies könnte der historische Kern der „Schweinevernichtung“ sein.

Markus will damit ausdrücken: Auch die römischen Legionen können Christus nicht widerstehen. Sie gehen an ihren eigenen Geistern zugrunde. Denn „der Jude“ vor den Toren Gerasas war von „Rom“ besetzt. Innerlich: von den Götzen/Geistern der römisch-hellenistischen Welt (s.o.). Äußerlich: von den Legionen der römischen Besatzer. In der Schweineherde kommt Inneres und Äußeres zusammen. Und so schaffen die Geister ihren Untertanen (in Gestalt der Schweineherde/Legion) ihren Untergang.

Im Licht dieser Erzählebene klärt sich nun manches auf, was auf der wörtlichen Verstehensebene unerklärbar war. Einige Beispiele:

– Nicht einmal mit einer Kette konnte man ihn (= den Dämon) binden, d.h. die römische Besatzung schien übermächtig und unbesiegbar.

– Der Dämon fällt Jesus zu Füßen und huldigt ihm (v. 6). Dazu gibt es bei Markus nur noch eine einzige Parallele und zwar in der Passionsgeschichte, wo römische Soldaten Jesus in einer Spottgeste huldigen. Hier wird vorweggenommen, dass Jesus Christus tatsächlich die Huldigung gebührt.

– Wenn die Schweine für die römische Soldaten stehen, dann ist die Frage, ob sie schwimmen können, völlig unwichtig. Es geht nicht um 2000 Schweine eines Großbauern in der Dekapolis, sondern um römische Macht, die dem sich ausbreitenden Christentum letztlich nichts entgegenzusetzen hat. Schweine waren den Juden unrein, und so mancher wird im Hinblick auf die heidnischen römischen Besatzer geseufzt haben: „Wenn die Schweine doch nur im Meer ersöffen.“ Vor diesem Hintergrund mutet die Erzählung bei Markus fast schwankhaft-derb an.

– Neben dem Eber hatte die Legion X. auch einen Delphin als Abzeichen. Der Delphin erinnerte an eine Seeschlacht zwischen Sizilien und Italien, wo sich die Legion X. durch besondere Tapferkeit ausgezeichnet hatte. Diese Meerenge („Straße von Messina“, lat. Fretum Siculum) hatte der Legion auch den Namen „Legio fretensis“ gegeben (= „die Legion von der Meerenge Fretum Siculum“).

– Wenn Markus nun die Legion ins Meer stürzen und ersaufen lässt, dann hat er vermutlich nicht den See Genezareth vor Augen, sondern die Seeschlacht, die der Legion ihren Namen gab: Im Gegensatz zu ihrer ruhmreichen Vergangenheit als Sieger zur See lässt er die Soldaten im Meer einfach ertrinken. Das stolze Rom (berühmt-gefürchtet als Seestreitmacht) versinkt. Die Zukunft wird diese Vision des Markus bestätigen. – Die Entfernung vom See Genezareth spielt also auf dieser allegorischen Ebene überhaupt keine Rolle.

   Anmerkung: Die von Matthäus bearbeitete Fassung nennt als Ort des Geschehens nicht Gerasa, sondern Gadara. Auch das, wie wir schon feststellten, zu weit für eine Herdenflucht von  Schweinen. Allerdings sei erwähnt, dass die Legio X. Fretensis eine Zeitlang auch in Gadara stationiert war...)

– Wie eingangs festgestellt, sind Schweine keine Herdentiere, auch wenn dies der Name „Schweineherde“ vermuten ließe. Im Gegensatz dazu ist der Soldat in jedem Fall ein Herdentier. Die Formulierung „die Herde stürzte den Steilhang hinunter“ ist auf einen Soldatentrupp sehr wohl anwendbar. Überhaupt gibt es in dieser Erzählung des Markus eine Reihe militärischer Anklänge. Das griechische Wort für „Herde“, das Markus benutzt („agelä“), könnte man auch übersetzen mit „Trupp von Rekruten“. Der gesamte Dialog Jesu mit den Dämonen erinnert ein wenig an ein Gespräch zwischen Vorgesetztem und Untergebenen. („Name?“ – „Legio X. Fretensis, zu Befehl….“) Die Dämonen erbitten „Befehl“, in die Schweine fahren zu dürfen. Jesus gibt ihnen dazu „Erlaubnis“.

– Auch die merkwürdige Bitte, nicht außerhalb des Landes geschickt zu werden, bekommt plötzlich Sinn: Die (römischen) Geister sind ja Besatzer und haben kein Interesse daran, das Land aufzugeben.

„Die Heilung des Besessenen von Gerasa“ hat, wie so viele Erzählungen in den Evangelien, nichts mit konkreten Ereignissen im Leben des irdischen Jesus zu tun, dafür sehr viel mit dem Geschichts- und Erfahrungshorizont des Evangelisten Markus. Diese allegorische Deutung ist der Erzählung nicht übergestülpt, sondern ist bereits von Markus so gewollt. Das wird schon daran deutlich, dass die Geschichte wörtlich verstanden keinen Sinn macht, allegorisch verstanden aber sehr wohl. Jesus macht keine Spritztour mit seinen Jüngern über das galiläische Meer, um einen einzelnen Besessenen zu heilen. Erzählt wird vielmehr die schwierige Mission unter den hellenistischen Heiden am Beispiel der Dekapolis. Missionare werden, obwohl sie beeindrucken (Mk 5,15+20), abgelehnt. Das Evangelium verbreitet sich weniger durch die Missionare als durch ortsansässige Juden, die über Christus zu ihren jüdischen Wurzeln zurückfinden und Christus als Messias anerkennen. Im Hinblick auf Rom macht Markus seiner Gemeinde Mut: Christus ist stärker als die römischen Legionen, er wird am Ende siegen. Wenn Jerusalem und der Tempel zu diesem Zeitpunkt bereits von den Römern zerstört sind (70 n. Chr.) dann hätte diese Ermutigung sogar ein ganz besonderes Gewicht.

Ein Einwand, der gegenüber der allegorischen Deutung öfters vorgebracht wird, ist dieser: Der „normale“ Leser des Markusevangeliums hätte diese allegorischen Bezüge gar nicht verstehen können. Dazu zwei Gedanken.

(1)Der „normale“ Leser des Markusevangeliums war gebildet, sonst hätte er gar nicht lesen oder schreiben können. Er war mit der geschichtlichen Entwicklung im römischen Reich vertraut. Auch die Geschichte der berühmten und ruhmreichen Legio X. Fretensis z. B. war damals ebenso verbreitet wie heute das Leben berühmter Sportler oder Politiker. Judäa ist voll von Zeugnissen dieser Legion (Münzprägungen, Siegel, Inschriften, Ziegelstempel…). Es wäre verwunderlich, wenn die gebildete Oberschicht (und nicht nur sie) die vielen Geschichten und Berichte über diese Legion, die von 66 bis ca. 290 in Judäa stationiert und so einflussreich war, nicht im Bewusstsein gehabt hätte.

(2)Im Hinblick auf den „normalen“ Christen jener Zeit, der weder schreiben noch lesen konnte, kann man annehmen, dass er von seinen „wissenden“ Ältesten unterrichtet wurde. Unmittelbar vor unserem Text heißt es bei Markus: „Und mit vielen derartigen Gleichnissen redete er (Jesus) zu ihnen das Wort, wie sie hören konnten. Ohne Gleichnis aber redete er nicht zu ihnen; für sich aber, löste er den Jüngern alles auf“ (Mk 4,33-34). Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass die Urgemeinde dieses Prinzip beibehalten hat.
 

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