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Matthäus 1-2 – Der Prolog

Wie Lukas und Johannes stellt Matthäus seinem Evangelium einen Prolog voran (übrigens hat auch Markus in Mk. 1,1-8 einen – wenn auch sehr kurzen – Prolog, den Matthäus in Mt. 3,1-12 leicht erweitert). Der eigenständige Prolog des Matthäus bietet zunächst ein Geschlechtsregister, dann die Geburt Jesu, die Anbetung der Magier, den Kindermord des Herodes sowie die glückliche Rückkehr Jesu und seiner Eltern aus Ägypten nach Nazareth.

 Mt. 1,1-17 – Mensch, König, Prophet, Messias, Sohn Gottes: Das Geschlechtsregister

 1 Dies ist das Buch von der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.
2 Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder.
3 Juda zeugte Perez und Serach mit der Tamar. Perez zeugte Hezron. Hezron zeugte Ram.
4 Ram zeugte Amminadab. Amminadab zeugte Nachschon. Nachschon zeugte Salmon.
5 Salmon zeugte Boas mit der Rahab. Boas zeugte Obed mit der Rut. Obed zeugte Isai.
6 Isai zeugte den König David. David zeugte Salomo mit der Frau des Uria.
7 Salomo zeugte Rehabeam. Rehabeam zeugte Abija. Abija zeugte Asa.
8 Asa zeugte Joschafat. Joschafat zeugte Joram. Joram zeugte Usija.
9 Usija zeugte Jotam. Jotam zeugte Ahas. Ahas zeugte Hiskia.
10 Hiskia zeugte Manasse. Manasse zeugte Amon. Amon zeugte Josia.
11 Josia zeugte Jojachin und seine Brüder um die Zeit der babylonischen Gefangenschaft.
12 Nach der babylonischen Gefangenschaft zeugte Jojachin Schealtïl. Schealtiël zeugte Serubbabel.
13 Serubbabel zeugte Abihud. Abihud zeugte Eljakim. Eljakim zeugte Asor.
14 Asor zeugte Zadok. Zadok zeugte Achim. Achim zeugte Eliud.
15 Eliud zeugte Eleasar. Eleasar zeugte Mattan. Mattan zeugte Jakob.
16 Jakob zeugte Josef, den Mann der Maria, von der geboren ist Jesus, der da heißt Christus.
17 Alle Glieder von Abraham bis zu David sind vierzehn Glieder. Von David bis zur babylonischen Gefangenschaft sind vierzehn Glieder. Von der babylonischen Gefangenschaft bis zu Christus sind vierzehn Glieder.

Geschlechtsregister waren zur Zeit der Evangelisten weit verbreitet. Nie geht es um einen biologischen Stammbaum, wie in unserer heutigen Ahnenforschung, sondern um theologische Aussagen. Das Geschlechtsregister ist eine literarische Kunstform. Es will auf etwas hinaus. Es hat eine Pointe.

Das Geschlechtsregister bei Lukas (als Kontrastbeispiel zum Geschlechtsregister bei Matthäus) führt den Stammbaum Jesu über David zurück auf Adam, den ersten Menschen, und über diesen sogar zurück auf Gott selber (Lk. 3,23ff.). Dass dies genealogisch unmöglich ist, versteht sich von selber. Lukas übernimmt einen Stammbaum voller Zahlensymbolik. Es sind 5x7 Glieder von Adam bis David sowie 6x7 Glieder von Nathan bis Jesus. Die Weltzeit wird in 12x7 Generationen eingeteilt. Die Heilszeit beginnt mit der 12. Generation, also mit Jesus. Lukas‘ Pointe: Jesus ist wahrer Mensch (Adam), König (David) und Prophet (Nathan). Er ist der Messias (Beginn der 12. Generation) und (durch die Rückführung des Stammbaumes von Adam zu Gott, V. 38) gleichzeitig der wahre Sohn Gottes.

Das Geschlechtsregister bei Matthäus dagegen beginnt mit Abraham (Erwählungsgeschichte des Volkes Israel) und schlägt in 2x7 Stufen einen Bogen zu David (dem Urbild des messianischen Königs). Von David aus fällt die Geschichte, wieder in 2x7 Stufen, zum Tiefpunkt der babylonischen Gefangenschaft (Verlust des Königtums). In weiteren 2x7 Stufen steigt dann die Linie wieder bis zu Christus, dem „David“ der Endzeit.

Insgesamt sind es also 6x7 Stufen, entsprechend dem Sechs-Tage-Werk der Schöpfung. Aber Sechs ist die Zahl der Unvollkommenheit – es fehlt der siebte Tag, die Sabbatruhe. Mit dem Kommen Christi bricht damit die siebte Stufe, der Sabbat Gottes an. Er ist also die Erfüllung der jüdischen Messiaserwartung. Das genau ist natürlich die Pointe des Geschlechts­registers bei Matthäus.

Exkurs: Die Pointe ist real, nicht die erzählte Geschichte

Auch die folgenden Abschnitte des Prologs haben jeweils eine Pointe. Sie münden nämlich jeweils in ein alttestamentliches Zitat. Dieses ist die eigentliche Botschaft, nicht die erzählte Kindheits­geschichte. Auf dieses literarische Vorgehen des Evangelisten ist uns die Sicht durch kirchliche Gewöhnung und durch mangelnden Umgang mit allegorischer Ausdrucksweise gänzlich verstellt. Ich möchte deshalb das Vorgehen der Matthäus an einem außerbiblischen, aber christlichen Text erläutern. Da dieser kaum bekannt ist, fällt der notwendige Perspektivenwechsel vielleicht leichter.

„Die syrische Schatzhöhle“ ist eine heilsgeschichtliche Zusammenfassung der Bibel aus dem 6. Jh., wobei Teile der Schrift vermutlich zwei- bis dreihundert Jahre weiter zurückgehen. Laut dieser Schrift wurden die Balken des Kreuzes aus der im Tempel aufbewahrten Bundeslade gezimmert. Ferner wird erzählt, dass sich unter dem Hügel Golgatha, der Kreuzigungsstätte Jesu, das Grab Adams befunden habe. Als nun Jesu Seite durch den Speer des römischen Soldaten durchbohrt wurde, seien Blut und Wasser herausgeflossen, im Hügel versickert und hätten Adam umflossen.

Beide Darstellungen sind natürlich nicht historisch, sondern allegorisch zu verstehen. Kein Mensch hat jemals den Verfasser der „Schatzhöhle“ der Lüge bezichtigt. Allen war klar, was er ausdrücken wollte. Im ersten Fall möchte er deutlich machen, dass die Bundeslade (Zeichen des „alten“ Bundes) transformiert wurde zu einem Kreuz, Zeichen des „neuen“ Bundes in Christus. Im zweiten Fall möchte er aufzeigen, dass der Mensch („Adam“) durch Jesu Blut das Leben gewinnt und durch das
Wasser die Taufe erhält. War das Kreuz „wirklich“ aus der Bundeslade gezimmert? Natürlich nicht. Zur Zeit Jesu war die Bundeslade längst verschollen. Befand sich „wirklich“ Adams Grab unter der Schädelstätte Golgatha? Natürlich nicht. Aber die Bilder bleiben haften und drücken etwas „Wirkliches“ aus: den neuen Bund in Christus, sein lebenspendendes Blut, die christliche Taufe auf den Namen Jesu. Nicht das erzählte Geschehen ist real, sondern die theologische Aussage hinter dem Bild, hinter der Symbolik. (Blut, Wasser, Kreuz und Bundeslade sind ja ihrerseits bereits Symbole.)

In ähnlicher Weise sind die Kindheitsgeschichten bei Matthäus (und auch bei Lukas) nicht real. Sie verweisen aber, wie wir jetzt sehen werden, auf reale theologische Aussagen. Diese Aussagen entstehen, indem Matthäus durch seine Geschichten alttestamentliche Zitate kunstvoll mit Jesus in Beziehung setzt.

Mt. 1,18-25 – Schon bald werden Reiche fallen: Die Geburt Jesu

18 Die Geburt Jesu Christi geschah aber so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war von dem heiligen Geist.
19 Josef aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen.
20 Als er das noch bedachte, siehe, da erschien ihm der Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von dem heiligen Geist.
21 Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden.
22 Das ist aber alles geschehen, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Jesaja 7,14):
23 »Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben«, das heißt übersetzt: Gott mit uns.
24 Als nun Josef vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich.
25 Und er berührte sie nicht, bis sie einen Sohn gebar; und er gab ihm den Namen Jesus.

Ausgangspunkt dieses Abschnittes ist eine Bibelstelle in Jes. 7,14:
Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben.

Welche Bedeutung hat dieser Satz bei Jesaja? Diese Frage ist sehr wichtig, weil Matthäus sagt: mit Jesu Geburt wird dieses Wort erfüllt.

Nun, Jesaja versucht seinen König Ahas davon abzubringen, sich mit den Reichen Syrien und (dem Nordreich) Israel gegen Assyrien zu verbünden. Das wäre gegen Gottes Wille. Aber Ahas hat große Angst vor diesen Mächten und entscheidet sich gegen Gott. Da sagt ihm Jesaja dieses Gerichtswort: Diese Könige, vor denen du mehr Furcht hast als vor Gott, werden ihre Reiche verlieren noch bevor ein Kind, das jetzt geboren wird, weiß, was gut und böse ist. Und ebenso schnell wird dein eigenes Reich vergehen:
            Siehe, eine junge Frau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben … ehe der Knabe lernt Böses verwerfen und Gutes wählen, wird das Land verödet sein, vor dessen zwei Königen dir graut…

Im ursprünglichen Zusammenhang geht es also nicht um eine übernatürliche Geburt (das hebräische Wort „Jungfrau“ kann genauso gut „junge Frau“ bedeuten). Vielmehr geht es um ein Bild, das eine kurze Zeitspanne von einigen Monaten ausdrücken soll („noch ehe der Knabe Böse und Gut unterscheiden kann…“): Schon bald werden Reiche fallen, vor denen man zittert.

Und genau das, so sagt Matthäus, wiederholt sich heute, erfüllt sich mit Jesu Geburt: Schon bald werden Reiche fallen, vor denen man heute noch zittert. Es geht nicht mehr, wie bei Jesaja, um Syrien und das israelitische Nordreich. Sie existieren schon lange nicht mehr. Es geht um das große Rom und seinen Vasallen Herodes. Es ist also eine Geschichte für die verfolgten Christen zur Zeit, in der dieses Evangelium entstand – zur Zeit Neros, dem großen Feind des neuen Glaubens. Eine junge Frau wird gebären… Jesus ist gekommen … seine Herrschaft fegt Königreiche hinweg… setzt euren Glauben nicht auf weltliche Macht, sondern auf den Sohn mit Namen Immanuel (= „Gott ist mit uns“), auf Jesus (= „Gott hilft“).

Anmerkung:
Die „Jungfrauengeburt“ wurde erst in einem mit Göttern und Halbgöttern bevölkerten griechischen Umfeld zu einem „biologischen“ Wunder.  Paulus kennt die Jungfrauengeburt nicht, außerhalb der matthäischen und lukanischen Prologe taucht sie nicht auf. Auch das Markusevangelium und das Johannesevangelium kennen sie nicht. Der ursprüngliche Gedanke, nämlich dass sowohl Jesus (als „zweiter Adam“ 1.Kor. 15,45) als auch seine Nachfolger „neue Kreaturen“, Neuschöpfungen sind (2. Kor. 5,17), die aus Gott, nicht aus dem Fleisch neu geboren sind, hat sich aber im Johannes- evangelium (dort interessanterweise ebenfalls im Prolog) und in den apostolischen Briefen gehal  - ten. Immer geht es um einen geistlichen, nicht um einen biologischen Vorgang:

„Und das Wort ward Fleisch“ ( Jh. 1,14)

„Wieviele ihn (Christus) aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen des Mannes, sondern von Gott geboren sind.“ (Jh. 1, 12f.)

„Du bist mein lieber Sohn, heute habe ich dich gezeugt.“ (Ps. 2,7, vgl Hebr. 1,5; 5,5)

Wer aus Gott geboren ist, der tut keine Sünde.“ (1. Jh. 3,9)

Vgl. auch den Sprachgebrauch in 1. Kor. 4,15, wo Paulus spricht: „Denn ich habe euch gezeugt in Jesus Christus durchs Evangelium.“

Vgl. ferner, wie Elisabeth die „Zeugung“ ihres Sohnes Johannes des Täufers in Lk. 1,25 beschreibt: So hat der Herr an mir getan in den Tagen, als er mich angesehen hat, um meine Schmach unter den Menschen von mir zu nehmen.“

Auch an den lukanischen Stammbaum kann man denken, der Jesus über Adam auf Gott zurückführt (Lk. 3, 38).

Alle diese Verweise belegen den biblischen Gedanken der „geistlichen“ Zeugung. Mt. 1,19 und 25 sowie Lk. 1,34 weisen allerdings auf ein biologisches Wunder hin. Entweder haben die Redakteure der uns überlieferten Textfassungen diesen geistlichen Sinn selber nicht mehr verstanden, oder aber sie bleiben bewusst in ihrer allegorischen Sprechweise. (Vgl. dazu unter der Rubrik Bildersprache den Beitrag „Schriftverständnis: Das Bilderbuch Gottes“.)

Matthäus nimmt also nicht nur den ursprünglichen Gedanken von Jes. 7,14 auf, in dem das Kind als „Zeitangabe“ für den bevorstehenden Untergang der Königreiche steht, sondern „hängt“ an die Doppelbedeutung „junge Frau / Jungfrau“ den zusätzlichen Gedanken von der geistlichen Herkunft Jesu. Dieser Gedankengang wird noch begünstigt durch die Namensangabe Immanuel (= „Gott ist mit uns“) in Jes. 7,14. Im ursprünglichen Textzusammenhang soll damit Gottes Hilfe in den bevorstehenden  kriegerischen Umbrüchen zugesagt werden. Matthäus erweitert diese Zusage durch den Gedanken: Jesus ist dieser „Gott mit uns“.

Mt. 2,1-12 – Großes wird klein und kleines wird groß: Die Magier

1 Als Jesus geboren war in Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen:
2 Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten.
3 Als das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem,
4 und er ließ zusammenkommen alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und erforschte von ihnen, wo der Christus geboren werden sollte.
5 Und sie sagten ihm: In Bethlehem in Judäa; denn so steht geschrieben durch den Propheten (Micha 5,1):
6 »Und du, Bethlehem im jüdischen Lande, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.«
7 Da rief Herodes die Weisen heimlich zu sich und erkundete genau von ihnen, wann der Stern erschienen wäre,
8 und schickte sie nach Bethlehem und sprach: Zieht hin und forscht fleißig nach dem Kindlein; und wenn ihr's findet, so sagt mir's wieder, dass auch ich komme und es anbete.
9 Als sie nun den König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war.
10 Als sie den Stern sahen, wurden sie hoch erfreut
11 und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe.
12 Und Gott befahl ihnen im Traum, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren; und sie zogen auf einem andern Weg wieder in ihr Land.

Diese Geschichte haben wir bereits ausführlich betrachtet (vgl. den Abschnitt „Bildersprache“). Zielpunkt der Geschichte ist Micha 5,1: „Und du, Bethlehem, im jüdischen Lande bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda. Denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.“ Die Pointe: Gott macht Großes klein und Kleines groß. Das müssen die Magier erfahren, die bei Matthäus den neugeborenen König im Königspalast des Herodes suchen, während er doch in einer Höhle in Bethlehem zu finden ist.

„Was kann aus Nazareth Gutes kommen!“ lässt der Evangelist Johannes den Nathanael sagen. Die Herkunft Jesu aus dem unbedeutenden Randgebiet Galiläa bereitete der Urgemeinde Schwierigkeiten. Genau deshalb wird Jesu Geburt mit Bethlehem in Verbindung gebracht: „Und du, Bethlehem, … bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda.“ Faktisch war Bethlehem tatsächlich die kleinste unter den Städten in Juda. Sie war so klein, dass sie nicht einmal einen Anteil am Heer Judas stellen musste. Und doch hatte Gott Bethlehem erwählt. Aus ihm stammte die David-Dynastie. Gott machte Kleines groß. Wenn Jesus von Matthäus mit Bethlehem in Verbindung gebracht wird, dann deshalb, um der Gemeinde Mut zuzusprechen. Was kann aus Nazareth Gutes kommen? Antwort: Nazareth ist das wahre Bethlehem. Gott macht Kleines groß. Aus dem unbedeutenden Galiläa kommt der Messias der Welt.

Mt. 2,13-15 – Meine Barmherzigkeit ist entbrannt.

13 Als sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir's sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.
14 Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten
15 und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Hosea 11,1): »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«

Beginnen wir mit dem Propheten Hosea. Er erinnert daran, dass das Volk Israel einst von Gott aus der ägyptischen Sklaverei befreit wurde. Das Originalzitat lautet: „Als Israel jung war, hatte ich ihn lieb und rief ihn, meinen Sohn, aus Ägypten.“ – „Der Sohn“ bei Hosea ist also das Volk Israel. „Als Israel jung war“, hatte es sich aus Ägypten rufen lassen. Hosea fährt fort: „Aber wenn man es jetzt ruft, so wenden sie sich davon und opfern den Baalen“ (Hosea 11,2). Das Volk erinnert sich nicht mehr an den liebevollen Bund, den Gott mit ihnen schloss, sondern verfällt dem Götzendienst. Die Konsequenz könnte eigentlich nur ein Strafgericht sein. Aber überraschenderweise fährt Hosea fort: „Wie kann ich dich preisgeben, Israel? … Mein Herz ist andern Sinnes, alle meine Barmherzigkeit ist entbrannt. Ich will nicht tun nach meinem grimmigen Zorn … denn ich bin Gott und nicht ein Mensch“ (Hosea 11,8-9). Obwohl Israel dem Bund mit Gott untreu geworden war, wird Gott doch treu bleiben und sein Volk nicht verstoßen.

So weit Hosea. Was will Matthäus damit seiner christlichen Gemeinde sagen? Er bezieht das „junge Israel“, Gottes Sohn, auf Christus. Er ist das junge Israel, das Gott lieb hat (vgl. Mt. 3,17). Ihm und seinen Nachfolgern gilt dieses Wort Hoseas: „Alle meine Barmherzigkeit ist entbrannt.“ Matthäus tröstet damit die verfolgte Gemeinde seiner Zeit. In Christus, dem „jungen Israel“, erfüllt sich Gottes Zusage seiner Barmherzigkeit und Vergebung.

Ist die Heilige Familie nun tatsächlich nach Ägypten geflohen, nur damit Matthäus seiner Gemeinde eine Trostzusage machen kann? Natürlich nicht. Es ist Matthäus‘ literarischer Kunstgriff, Jesus Christus „aus Ägypten“ rufen zu lassen und ihn damit zum Träger der größten Verheißung zu machen: In Christus, dem Sohn, den Gott lieb hat, wird Gottes Gnade Wirklichkeit.

Mt. 2,16-18 – „Lass dein Schreien und Weinen“: der Kindermord

16 Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Kinder in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte.
17 Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht (Jeremia 31,15):
18 »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«

Auch der Kindermord des Herodes ist in der von Matthäus beschriebenen Weise kein historisches Faktum. Weder lassen sich dazu außerbiblische Quellen finden, noch wird das Geschehen außerhalb von Mt. 2 in der Bibel nochmals erwähnt. Allerdings dürften der christlichen Gemeinde zur Zeit der Abfassung des Evangeliums gleich an mehreren Stellen die Ohren geklungen haben. Zum einen: Es war die Zeit Neros und das Ermorden christlicher Kinder war an der Tagesordnung. Unendliches Leid hatte die Gemeinde auszuhalten. Sie musste voll Angst und Zweifel sein.

Ein weiterer offensichtlicher Bezugspunkt der Kindermord-Geschichte ist das Volk Israel in ägyptischer Sklaverei. Aus Angst vor dem Erstarken des Volkes lässt der Pharao die Söhne nach der Geburt töten (2. Mo. 1,22). Wie Jesus dem Herodes, so entkommt auch Mose. Und wie Mose sein Volk aus Ägypten führte, so wird auch Jesus seine von Nero verfolgte Gemeinde aus der Verfolgung befreien.

Vielleicht war der Gemeinde auch noch ein Ereignis in Erinnerung, das sich 4 v. Chr. zugetragen hatte und Herodes in einen besonders schändlichen Licht zeigt: Herodes hatte nämlich den Befehl gegeben, bei seinem Ableben hunderte von angesehenen jüdischen Familien töten zu lassen, damit die Trauer des Volkes bei seinem Tode echt sei. Dieser Plan wurde zwar nicht ausgeführt, aber er wurde in der Bevölkerung bekannt. Auch Josephus Flavius berichtet davon. So wären drei Ereignisse (Nero, Herodes, Pharao) zusammengekommen und hätten sich literarisch zum Kindermord von Bethlehem verdichtet.

Entscheidend an diesem Text ist aber wieder das alttestamentliche Zitat, auf das alles hinausläuft.  Wieder ist es umgekehrt als wir heute zu sehen gewohnt sind: Nicht der (fiktive) Kindermord zu Bethlehem ist entscheidend, sondern die Aussage, die damit „in Erfüllung geht“.

„Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.“
Rahel, die Mutter Josefs, wird in Jeremia 31 als Ahnfrau Israels gesehen. Sie beweint ihre „Kinder“ = ihr Volk, das in die Verbannung geführt worden war. Die Geschichte Israels schien damit zu
Ende, Gottes Verheißungen an Abraham, Isaak und Jakob schienen hinfällig. Aber wie geht das Zitat aus Jeremia 31 weiter? Jeremia sagt: „Aber so spricht der Herr: Lass dein Schreien und Weinen … denn sie sollen wiederkommen aus dem Lande des Feindes und deine Nachkommen haben viel Gutes zu erwarten“ (Jer. 31,16-17). Diesen tröstlichen Zuspruch bezieht Matthäus auf seine Gemeinde: Ihr werdet noch verfolgt, eure Kinder getötet. Aber mit dem Kommen des Messias haben die weltlichen Herrscher ihre Macht verloren. Noch weint ihr wie Rahel. Aber Gott sagt euch: Lasst das Weinen. Denn die Zusage Jeremias geht an euch in Erfüllung: „Sie werden weinend kommen, aber ich will sie trösten und leiten. Ich will sie zu Wasserbächen führen auf ebenen Wegen … denn ich bin Israels Vater und Ephraim ist mein erstgeborener Sohn.“ (Jer. 31,9)

Wir erinnern uns an den vorhergehenden Abschnitt: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“ Jesus ist das „wahre“ Israel, er ist Gottes erstgeborener Sohn, an dem er sein Wohlgefallen hat. Wer in ihm bleibt, „wird leben, ob er gleich stürbe“ (Jh. 11,25).

Das Erfüllungszitat Jer. 31,15 (Rahel beweint ihre Kinder) steht mitten im vielleicht wichtigsten messianischen Kapitel des Alten Testaments. Er ist ein Hymnus auf Gottes Heilsversprechen. Mit diesem Zitat wird Jesus bei Matthäus zum Träger dieser wunderbaren Verheißungen gemacht. Mit ihm gehen sie in Erfüllung. Noch mag es Grund zum Weinen geben, aber „der Herr wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen“ (Jer. 25,8; vgl. Offb. 7,17 und 21,4!). Mit Jesus stehen wir schon jetzt auf der Seite des Siegers.

Mt. 2, 19-23 – Der Nazarener, Nazoräer, Nezeräer …

19 Als aber Herodes gestorben war, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum in Ägypten
20 und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und zieh hin in das Land Israel; sie sind gestorben, die dem Kindlein nach dem Leben getrachtet haben.
21 Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich und kam in das Land Israel.
22 Als er aber hörte, dass Archelaus in Judäa König war anstatt seines Vaters Herodes, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Und im Traum empfing er Befehl von Gott und zog ins galiläische Land
23 und kam und wohnte in einer Stadt mit Namen Nazareth, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazoräer heißen.

In den vorhergehenden Abschnitten hat Matthäus unseren Blick geweitet auf die universelle Dimension des messianischen Geschehens, das mit Jesu Kommen Wirklichkeit zu werden beginnt. Er hat alttestamentliche Verheißungen mit Jesus verknüpft und seiner Gemeinde damit Trost und Ermutigung zugesprochen. Nun, zum Ende seines Prologs hin, ist sein Lichtkegel wieder auf den Jesus von Nazareth gerichtet, von dessen Leben, Sterben und Auferstehen er (zusammen mit Markus und Lukas) ab Kapitel 3 berichten wird. Die Pointe dieses letzten Abschnittes des Prologs ist das Wort „Nazoräer“.

„Damit erfüllt würde, was gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazoräer heißen.“ Damit ist im Textzusammenhang zunächst „Nazarener“ gemeint, also ein Mensch aus Nazareth. Nazareth war zur Zeit Jesu ein völlig unbedeutender Ort, der bis dahin in der Bibel nirgends auftaucht (vgl. den schon zitierten Satz aus Jh. 1,46: „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?“) Diesen Namen verknüpft Matthäus nun geschickt mit ein oder zwei weiteren, ähnlich lautenden alttestamentlichen Begriffen:
 „Nasiräer“ (von hebr. „nasir“ = Geweihter) bezeichneten Menschen, die (oft schon von Geburt an) für Gott ausgesondert wurden oder sich selber später ganz Gott geweiht hatten (ähnlich der Mönche und Nonnen in den christlichen Klöstern)
und/oder
„Nezeräer“ (von hebr. „nezer“ = Spross). Vgl. dazu Jes. 11,1: „Und es wird ein Spross (Luther übersetzt „Reis“) hervorgehen aus dem Stamm Isais … auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn.“

Also selbst in dem so unwichtigen Wort „Nazareth“ sieht Matthäus einen Hinweis auf Christus. Die Pointe: So unbedeutend dieser im halbheidnischen Land Galiläa gelegene Ort gewesen sein mag, Gott macht aus seinem Namen Programm. Er ist in Zukunft unauflöslich verbunden mit Gottes Messias, Gottes Christus, Gottes Geweihten, dem Spross, aus dem nach Gottes Willen ein neues Israel entstehen sollte. Alles das, was dieser Spross nach Jes. 11 tun würde, geht nun, so
Matthäus, mit Jesus in Erfüllung.

Jesus als Erfüllung alttestamentlicher Heilserwartung

Wie wir gesehen haben, hat der Prolog des Matthäus eine ausgeklügelte und konsequente Struktur: A1 > B1; A2 > B2; A3 > B3 usw.

Matthäus geht aus von einem tröstlichen, Mut machenden alttestamentlichem Zitat (B) und gestaltet dazu eine Geschichte (A). Die Geschichte (aus der Kindheit Jesu) dient dabei wie eine Schnur, auf der die Zitate wie Perlen aufgereiht sind.

Bei den Jesus-Episoden handelt es sich dabei weder um Legenden noch um geschichtliche Berichte, sondern um allegorische, bildgebende (und im Hinblick auf die AT-Zitate um zielführende) Erzählungen. Das schließt nicht aus, dass Matthäus geschichtliches Material einfließen lässt: die Magier aus Armenien, die Nero anbeten (vgl. den Abschnitt „Bildersprache“), besondere Sternkonstellationen, die den astrologisch Interessierten damals viel Gesprächsstoff boten, Christenverfolgung durch Nero, Pharisäermorde durch Herodes usw. Aus diesem geschichtlichen Material hat sich bis heute keine stringente Zeitabfolge ableiten lassen. Wir haben gesehen, warum das nicht möglich ist: Es geht Matthäus (bei Lukas entsprechend, z. B. bei der Volkszählung) nicht um die geschichtlichen Ereignisse an sich, sie sind bestenfalls „Staffage“, Anlässe, die wie Brücken zu den eigentlichen und wahren Glaubensaussagen führen. „Wahr“ ist also bei Matthäus nicht der (pseudo-) geschichtliche Hintergrund, sondern die in Christus sich erfüllenden Verheißungen des Alten Testaments. Er schreibt keine Biographie Jesu, sondern predigt seiner Gemeinde in Bildern und Bezügen, die uns die (heils-)geschichtliche Dimension des Jesus von Nazareth wichtig machen möchte und die heute neu erschlossen werden müssen.

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